Diana Haller (vorne) liefert in der komplexen Stuttgarter „Ariodante“-Inszenierung eine Bravourleistung. Hinten: Sebastian Kohlepp. Foto: dpa

Wenn Jossi Wieler und Sergio Morabito gemeinsam Regie führen, darf man Großes erwarten. Und tatsächlich ist Händels Oper „Ariodante“ eine durchdachte, komplexe Inszenierung geworden.

Stuttgart - Einlaufmusik nennt man das in der Boxerszene. Bei Henry Maske war es einst Vangelis´ „Conquest of Paradise“, bei den Gladiatoren, die da in schillernden Kapuzencapes auf die Bühne der Stuttgarter Oper treten, ist es die Ouvertüre zu Händels Oper „Ariodante“, die das Publikum in Stimmung bringen soll für den folgenden Fight. Und gekämpft wird ja wirklich, auf Leben und Tod. Der Herzog Polinesso begehrt die schöne Königstochter Ginevra, die freilich den Ritter Ariodante liebt, so dass Polinesso mit Hilfe von Ginevras Hofdame Dalinda eine üble Intrige anzettelt, die nicht nur Ariodante in den Selbstmord treibt, sondern auch Ginevras Leben in Gefahr bringt. Am Ende ist Polinesso tot. Dalinda wird glücklich mit Lurcanio, dem Bruder Ariodantes, der wiederum seine Ginevra bekommt. Alles ist gut. Oder doch nicht?

Die Neuinszenierung von Händels „Ariodante“ durch das Regieduo Jossi Wieler und Sergio Morabito wirft mehr Fragen auf als sie Antworten bietet, grundsätzliche Fragen, die über das Stück weit hinausgehen. Nach unserem Selbstbild, nach den Rollen, die wir spielen und danach, wie wir sie definieren, wobei Kleidung eine entscheidende Rolle spielt - nicht nur, weil Polinessos Intrige auf einer Verkleidung beruht. Um zu verstehen, dass Kleider Leute machen, reicht es, sich im Opernfoyer aufmerksam umzusehen.

Doppelte Böden sind in Mode

Nachdem die Protagonisten jedenfalls alle vorgestellt sind, kann das Spiel beginnen, das da heißt: Wie führt man eine Barockoper auf? „Theater im Theater“ nennt man die Methode, bei der die Akteure ihre Produktionsbedingungen reflektieren, und doppelte Böden dieser Art sind ja im „performativen“ Schauspiel seit geraumer Zeit schwer in Mode. Nun bietet sich das Genre Barockoper für ein solches Verfahren insofern an, als ihm Künstlichkeit ohnehin eigen ist. Statt lineare Erzählstrukturen und psychologisierende Entwicklung zu bieten, sind die Figuren in hohem Maße stilisiert. In den Arien stülpen sie sich die Affekte wie Verkleidungen über, und auch ihre Koloraturenkunststücke haben etwas von einer Show. Das Publikum damals wollte unterhalten werden, und da kam es weniger auf stringente Dramaturgie als auf spektakuläre Darbietungen an.

Los geht’s, it´s showtime, heißt demnach das Motto in Stuttgart: lasst uns mal sehen, was geht. Auf Theaterkonventionen pfeifen wir, und so klettert Diana Haller in ihrer Hosenrolle als Ariodante aus dem Orchestergraben auf die Bühne, Ana Durlovski als Ginevra kommt, ein Mikrofon in der Hand, im türkis-weiß gestreiften Kleid von der Seite. Matthew Brook als König trägt eine Fantasieuniform mit Schulterbommeln wie ein afrikanischer Diktator. Alle suchen noch ihre Rolle, schreiten die Bühne ab, probieren vor dem Spiegel Perücken an, um zu sehen, wie sie damit wirken. Es ist ein unverbindliches, offenes Spiel, bei dem auch das hochgefahrene Orchester beteiligt ist, dessen Musiker merkwürdige Pullover und Hemden mit glänzenden Kragen tragen. Doch so unterhaltsam es auch ist, ihnen dabei zuzusehen – den Preis für die Unverbindlichkeit bezahlt zumindest im ersten Akt die Musik. Die musikalische Anlage mit ihrer Abfolge aus Rezitativ und Da-capo-Arie mag zwar in hohem Maße artifiziell sein – doch Händels Arien stecken voller Empfindsamkeit und Leidenschaft. Und wenn der musikalische Ausdruck derart szenisch zurückgenommen wird, dass zu den Worten „Eure Glut hat mich entflammt“ harmlose Ringelreihen getanzt werden, verpufft die Wirkung.