Was hart ist, soll in der Rhythmischen Sportgymnastik leicht aussehen – auch bei der Weltmeisterschaft, die an diesem Montag in Stuttgart beginnt. Foto: Getty

Etwa eineinhalb Minuten dauert eine Kür in der Rhythmischen Sportgymnastik. Für diese 90 Sekunden trainieren die Sportlerinnen mehr als 30 Stunden die Woche. Und das hart. Manchmal zu hart.

Stuttgart - Rhythmische Sportgymnastik – das klingt nach jungen Mädchen, nach einem Lächeln, nach Musik. Es klingt so harmlos. Doch die Rhythmische Sportgymnastik (RSG) ist eine Sportart, in der Erfolge nur möglich sind, wenn das Training schon im Vorschulalter beginnt, wenn die Bänder im Körper weit über das Normale hinaus gedehnt werden können, und in der Disziplin ebenso wichtig ist wie Talent. Stundenlanges Training und eine entbehrungsreiche Ernährung sind Grundvoraussetzungen. „Die Sportgymnastik ist eine der härtesten Sportarten“, sagt auch Katja Kleinveldt, die Cheftrainerin des deutschen Teams.

Was hart ist, soll leicht aussehen – dieser Widerspruch lässt sich nur durch viel Training aufheben. Mehr als 30 Stunden pro Woche üben die Athletinnen, manchmal sind es mehr als 40, meist neben der Schule. Denn Gymnastinnen sind jung. Mit 20 Jahren ist bei den meisten die Karriere schon wieder vorüber. Wer erfolgreich sein will, muss früh anfangen, am besten im Kindergartenalter, wenn der Körper noch formbar ist. „Damit die Gymnastinnen so beweglich sind, muss sehr früh, sehr viel gedehnt werden“, sagt Martina Harbauer, Sportwissenschaftlerin an der Universität Potsdam. Gedehnt werden muss nicht nur passiv, sondern auch aktiv – mit Gewichten oder einem Partner. „Ohne Schmerzen geht das nicht“, sagt Harbauer. Sie war selbst Sportgymnastin und einige Zeit als Nachwuchstrainerin tätig.

Die 41-Jährige weiß, wie viel Disziplin dazugehört, stundenlang in der Halle zu stehen, den Ball oder die Keulen in die Luft zu werfen, eine Rolle untendurch zu machen und das Handgerät wieder zu fangen – mit gestreckten Zehenspitzen und einem Lächeln im Gesicht. Immer wieder. Mehrere Stunden am Tag. Hunderte Male in der Woche. Nur wer die Bewegungen automatisiert, kann sie im Wettbewerb abrufen. „Es gibt Tage, da fällt einem das schwerer, aber Übung macht den Meister“, sagt die deutsche Einzelgymnastin Jana Berezko-Marggrander, die von diesem Montag an in Stuttgart bei der Weltmeisterschaft um die Olympia-Qualifikation turnt.

Im vergangenen Jahr häuften sich die Vorwürfe

Wer Leistungssport treibt, muss an seine Grenzen gehen, egal ob er Marathonläufer ist oder Skispringer. Doch in der Rhythmischen Sportgymnastik wird aus positivem Druck schnell Drill. Das hat das Jahr vor der Heim-WM in der Porsche-Arena gezeigt, als einige Gymnastinnen ihre Sorgen nicht länger unter die Turnmatte kehren wollten.

Im Oktober tauchten Anschuldigungen einer Athletin auf, eine Trainerin sei bei der WM 2011 handgreiflich geworden. Diese Betreuerin ist mittlerweile nicht mehr am Nationalmannschaftszentrum in Fellbach-Schmiden tätig, das Verfahren gegen sie wurde wegen Geringfügigkeit eingestellt. Die Ermittlungen gegen zwei andere Trainerinnen laufen noch. Die Vorwürfe: Anwendung von körperlicher Gewalt, Beleidigung, Essensentzug sowie die Verabreichung verschreibungspflichtiger Medikamente. Alles für den Erfolg.

„Die Trainerinnen haben es oftmals selbst nie anders kennengelernt“, erklärt Martina Harbauer. Viele von ihnen kommen aus der ehemaligen Sowjetunion, waren dort erfolgreich, trotz der harten Schule. Oder wegen? Diese Erfahrungen geben sie nun weiter. „Die Entwicklung, dass es in Deutschland hauptsächlich Trainerinnen mit osteuropäischem Hintergrund gibt, ist zweifelhaft“, meint Harbauer. Es gäbe auch gute Trainerinnen aus anderen Ländern, zum Beispiel aus Deutschland. „Eine Mischung würde der RSG guttun“, sagt sie.

Neue Gesichter in Schmiden

Im Stützpunkt in Schmiden hat sich im vergangenen Jahr einiges getan. Fast der gesamte Trainerstab wurde ausgetauscht. Natallia Raskina coacht nun die Einzelgymnastinnen, Katja Kleinveldt ist neue Chefin. Als Trainerin und Medizinerin soll sie einen wissenschaftlichen Ansatz ins Training bringen. Zudem wurden einige neue Positionen geschaffen. „Es gibt jetzt einen Psychologen und einen Ernährungsberater“, erklärt Berezko-Marggrander. Vor allem aber wurde die Waage aus der Halle verbannt. Das leidige Thema Gewicht soll nicht immer im Vordergrund stehen – auch wenn das bei den Athletinnen noch nicht vollkommen angekommen zu sein scheint. Bei einem Mediengespräch vor einige Tagen überzeugte sich eine der Gymnastinnen erst einmal, ob ihre Trainerin im Raum ist, bevor sie zu einer Brezel griff. „Diese Umstellungen sind ein Prozess, der nicht von heute auf morgen funktioniert“, sagt Kleinveldt, „wir müssen uns auch künftig die Frage stellen, wie wir die Abläufe verbessern können.“

Kritiker fragen sich hinter vorgehaltener Hand dennoch, ob die RSG noch zeitgemäß ist. Ja, meint Kleinveldt, denn „die Sportgymnastik ist beeindruckend. Kraft und Ausdauer werden gepaart mit Musik und Tanz“, schwärmt sie. „Ich mag diese Bewegungen“, meint Harbauer trotz aller Kritik. Und Berezko-Marggrander sagt: „Wenn ich im Wettkampf alleine mit meinen Geräten auf der Fläche stehe, dann macht das einfach Spaß.“ Dann sind auch die Strapazen vergessen – zumindest für eineinhalb Minuten.