Jeden Tag werden falsche Diagnosen gestellt, Patienten übertherapiert oder ohne erwiesenen Nutzen behandelt. Das erschüttert das Vertrauen in die Medizin. In seinem Buch erklärt der Arzt Gunter Frank, wie sich Patienten gegen die scheinbare Übermacht der Weißkittel wehren können.
Jeden Tag werden falsche Diagnosen gestellt, Patienten übertherapiert oder ohne erwiesenen Nutzen behandelt. Das erschüttert das Vertrauen in die Medizin. In seinem Buch erklärt der Arzt Gunter Frank, wie sich Patienten gegen die scheinbare Übermacht der Weißkittel wehren können.
Stuttgart - Herr Frank, es gibt ein Sprichwort, das besagt: Gehst du zum Arzt, wirst du krank. Inwieweit stimmt diese Aussage?
Leider in zunehmend erschreckendem Ausmaß. Geht man von seriösen Schätzungen aus, dann ist die ärztliche Behandlung die Todesursache Nummer drei in westlichen Ländern. Das sind in Zahlen jährlich 450 000 Tote in den USA und den EU-Ländern. Schätzungsweise sterben allein in Deutschland 50 000 Menschen an leicht vermeidbaren Fehlbehandlungen. Wir sprechen dabei nicht über die normalen Risiken einer verantwortungsvollen Medizin, sondern vor allem von medizinisch unsinnigen Übertherapien und ihren Folgen.
Ein Grund, den Sie beklagen, ist, dass die Ärzte ihre Patienten zu wenig informieren: Laut einer aktuellen Umfrage fühlt sich beinahe ein Viertel der Facharztpatienten über die Vor- und Nachteile einer Therapie unzureichend informiert. Woran liegt es, dass offenbar viele Ärzte mundfaul geworden sind?
Die Hochschulmedizin ist inzwischen eng mit den Herstellern von Medikamenten und Medizinprodukten verflochten. Besonders folgenreich ist der finanzielle Einfluss der Industrie auf die Erstellung medizinischer Leitlinien, die wir niedergelassene Ärzte in der Sprechstunde leider oft zu unkritisch umsetzen. Ob es die Diabetesleitlinien sind oder Adipositasleitlinien – um unnötige Medikamente zu verkaufen, werden die Normwerte für Cholesterin, Blutzucker, Blutdruck oder Gewicht herabgesetzt. Das führt zu Patienten, die als krank bezeichnet werden, obwohl sie gar nicht krank sind.
Doch Sie gehen nicht nur Ärzte und Fachgesellschaften an, Sie fordern auch vom Patienten mehr Einsatz: Wie soll denn der Patient mit seinem Arzt am besten umgehen?
Ich habe die bittere Erkenntnis, dass es leider nur der Patient richten kann. Im 21. Jahrhundert, in dem die Grundpfeiler unseres Gesundheitssystems stark in Richtung Pharmaindustrie verschoben werden, braucht es als Gegengewicht den nach Informationen verlangenden Patienten. Ein solcher Patient kann dann viel besser zusammen mit seinem Arzt sinnvolle Therapieentscheidungen treffen, die allein auf sein Wohl und nicht auf den Geldbeutel zielen.
Indem er medizinische Studien liest und selbst zum Experten wird?
Auf keinen Fall darf man vom Patienten verlangen, dass er medizinische Studien lesen soll, bevor er zum Arzt geht. Aber er kann relativ einfach herausfinden, ob der behandelnde Arzt über die Wirkung und die Nebenwirkung einer Therapie auch wirklich Bescheid weiß oder nicht.
Wie lauten Ihre Ratschläge?
Der Patient muss einfach die richtigen Fragen stellen. Angenommen, der Arzt sagt, dass man diese Tablette ein Leben lang einnehmen soll. So könne man einen Herzinfarkt vermeiden. Dann sollte der Patient folgendes fragen: Welche Folgen hat es für mich, wenn ich die Therapie nicht mache? Und welche Folgen hat es, wenn ich die Pille regelmäßig einnehme? Wo genau liegt mein Vorteil – wer genau bekommt weniger Herzinfarkte, wie viele, in welchem Zeitrahmen und leben die Betroffenen dann auch länger als die Nichtbehandelten? Allein an diesen Fragen werden viele Ärzte scheitern.
Doch es gibt weitere Faktoren, die einer von Ihnen geforderten partnerschaftlichen Arzt-Patienten-Beziehung im Weg stehen könnten. Da wäre beispielsweise die knapp bemessene Zeit für Patientengespräche . . .
Patienten haben Rechte, wie etwa das Recht, über die Wirkung und möglichen Nebenwirkungen von Therapien beraten zu werden – und zwar so, dass es der Patient versteht. Ein Arzt braucht bei Erkältungen oder Krankmeldungen nicht jedes Behandlungskonzept im Detail zu erklären. Aber wenn es um lebenslange Medikamenteneinnahmen oder um Chemotherapien geht, dann muss er den genauen Nutzen erklären können. Fehlende Zeit oder der Hinweis, der Patient würde die Details der Therapie nicht verstehen, sind faule Ausreden. Man kann die Vor- und Nachteile einer Therapie sehr wohl übersichtlich darstellen. Nur würden sich dann viel mehr Patienten dagegen entscheiden, weil bei vielen Behandlungen der fehlende Nutzen offensichtlich wäre.
Aber was wäre dann die Konsequenz? Gar keine Therapie zu machen?
Wenn der Patient durch gezielte Fragen das Gefühl bekommt, hoppla, mein Arzt weiß über die Therapie nicht gut Bescheid, dann ist die Nichttherapie die vernünftigere Option. Viele Ältere machen das jetzt schon – allein aufgrund des gesunden Menschenverstands. Sie besorgen sich zwar die verordneten Medikamente, nehmen sie aber nicht ein. Das hilft einerseits Medikamenten-Wechselwirkungen zu vermeiden. Besser wäre es jedoch, wenn sie sich trauen würden, offen zu fragen, ob die Therapie ihnen hilft – und diese dann gegebenenfalls auch offen ablehnen. So würde das gesamte Gesundheitssystem gehörig unter Druck geraten.
Sie raten, den Arzt bei schwierigen Entscheidungen auch mal zu fragen, was er seiner Familie raten würde. Das tue ich jetzt. Würden Sie Ihren Kindern zu einer Zeckenimpfung raten, die vor der Frühsommer-Meningoenzephalitis (FSME) schützen soll?
Natürlich nicht. Das ist ein ganz einfaches Beispiel dafür, wie es die Pharmaindustrie geschafft hat, in der Gesellschaft eine ungerechtfertigte Zeckenangst zu etablieren. In absoluten Zahlen ausgedrückt: man muss 14000 Menschen impfen, um einen FSME-Fall zu verhindern. Und dieser Fall verläuft meist harmlos. Aber bei einem von 24 000 Geimpften kommt es zu ernsten Impf-Nebenwirkungen. Da kann ich doch keinen Nutzen der Impfung erkennen. Allein die Fahrt zum Impftermin beim Arzt ist statistisch gesehen gefährlicher als auf die Impfung zu verzichten.
Inzwischen wurden große Kampagnen gestartet, damit die Frau ab 50 zur Mammografie geht. Würden Sie Ihrer Mutter zu dieser Brustkrebs-Vorsorge raten?
Nein. Es sei denn, die Angst zu Erkranken ist so stark, dass die Mammografie sie psychologisch beruhigen würde. Aber unterm Strich betrachtet, leben Frauen, die regelmäßig zur Mammografie gehen, nicht automatisch länger – sie haben also keinen Vorteil. Hinzu kommt, dass viele Patientinnen die Verdachtsdiagnose Brustkrebs erhalten und häufig unnötigen Biopsien und unnötigen Ängsten ausgesetzt sind. Meiner Einschätzung nach ist der Nutzen der Mammografie nicht belegt, weshalb die Untersuchung nur bei konkreten Verdachtsfällen ausgeführt werden sollte.
Noch ist das Vertrauen der Bürger in die weißen Kittel groß. Reichen da Bücher wie das Ihre aus, um dieses Vertrauensverhältnis in gesundem Maß zu erschüttern?
Die Patienten müssen sich im Klaren sein, dass die moderne Medizin nicht nur da ist, um ihnen zu helfen, sondern auch um Profit zu machen und Karrieren zu ermöglichen. Sich in der belastenden Situation einer Erkrankung einfach vertrauensvoll behandeln zu lassen, wie bei Professor Brinkmann in der Schwarzwaldklinik, ist zwar verständlich, aber leider naiv. Um sich vor gefährlichen Übertherapien zu schützen, wird man nicht umhin kommen, eine neue Patientenrolle einzunehmen.