Gundel Kilian 2012 in einer Ausstellung mit Fotografien ihres Mannes. Foto: dpa

Sie kauerte im Souffleurkasten und kletterte hinauf zu den Beleuchtern: Für ein gutes Foto war Gundel Kilian kein Weg zu weit. Die Karriere der Stuttgarter Fotografin ist auch eine Geschichte der Emanzipation.

Stuttgart - Ihr Blick ist wach, die Haltung tadellos. Gundel Kilian schaut mit den stets aufmerksamen Augen der Fotografin auf ihre Umgebung, und sie geht so aufrecht durchs Leben, wie das Tänzer tun. Die neunzig Jahre, die sie an diesem Montag feiern darf, sieht man der agilen Künstlerin nicht an. Auch wenn sie die Spitzenschuhe schon vor geraumer Zeit das letzte Mal geschnürt hat, bleibt Gundel Kilian dem Ballett bis heute verbunden: Mit der Kamera begleitet sie das Stuttgarter Ballett seit seiner Gründung. Im Team mit ihrem Mann Hannes hat sie die Stationen seiner Wunderwerdung dokumentiert und die Arbeit mehrerer Tänzergenerationen der Flüchtigkeit entrissen.

Wer die Kalender durchblättert, deren Motive Gundel Kilian in den Stuttgarter Ballettsälen sammelt, der darf sich nicht nur über viele Wiedersehen freuen: mit Marcia Haydée etwa, die in liebevoller Geste Birgit Keil anleitet, mit Eric Gauthier, der für die Kamera zu einem perfekten Sprung abhebt, mit einem selig lächelnden Pablo von Sternenfels, der im Tanz das ganze Glück der Welt zu finden scheint. Verblüffend ist, mit welcher Neugier sich die „Grande Dame“ der Ballettfotografie auch nach vielen Jahrzehnten hinter der Kamera ans Werk macht und bislang Ungesehenes findet. Man spürt, dass der Ballettsaal der Ort ist, an dem Gundel Kilian erklärtermaßen am liebsten fotografiert, hier habe sie, wie sie selbst sagt, „immer eine Zeit voller wunderbarer, anregender Momente“ erlebt. „Wenn ich zutiefst demprimiert war, dann bin ich in den Ballettsaal gegangen, habe zugeschaut und fotografiert – und jedes Mal ging es mir dank der geballten Energie um mich herum gleich besser.“

Neuer Bildband „Motion & Emotion“

Dennoch: Der dreißigste Ballettsaal-Kalender, der mit zwölf Schwarzweißmotiven durch das Jahr 2019 führen wird, soll ihr letzter sein. Von Ruhestand mag, wer Gundel Kilian in ihrem Haus in Wäschenbeuren besucht, aber nicht sprechen. Fotos sind auf dem großen Tisch im Arbeitszimmer ausgebreitet, deuten auf vollendete wie anstehende Projekte hin: Zum neunzigsten Geburtstag würdigt der Daco-Verlag, in dem Gundel Kilian bereits Bücher über den „Jahrhunderttänzer Vladimir Malakhov“ und die koreanische Starsolistin Sue Jin Kang veröffentlichte, die Fotografin mit dem Bildband „Motion & Emotion“. Bühnenfotografien aus sechs Jahrzehnten vereint das Buch. Eine Reise zurück zu legendären Inszenierungen und Stars aus Ballett, Oper und Theater, denen sie in dieser Zeit an den Stuttgarter Staatstheatern begegnete, wird auch die Ausstellung bieten, mit der sich die Galerie Andreas Henn vom 13. September an vor Gundel Kilian verbeugt. Die Sängerin Birgit Nilsson, der Autor Thomas Bernhard, der Komponist Philip Glass: Gundel Kilians Fotos erzählen von großen Momenten. Minetti ist da, und tippt sich noch einmal in einer Geste zwischen Wahn und Starsinn an den Kopf. Und Kirsten Dene, deren Iphigenie ratlos auf das Wüten zu blicken scheint, das den Theaterchef Claus Peymann 1977 aus dem Amt jagte.

Um das Drama einer Opern-Inszenierung, die Dynamik einer Ballettszene oder einen neuen Star einzufangen, gab Gundel Kilian alles. Sie setzte sich ins Auto, als sie hörte, dass Peymann zur Vertragsunterzeichnung anreiste. Bei der Uraufführung von John Crankos „Onegin“ kauerte sie im Souffleurkasten, sie fotografierte aus den Kulissen und kletterte in Beleuchterhöhen, um neue Perspektiven zu wagen. Von der Energie, die Gundel Kilian bis heute antreibt, erzählt auch das Porträt, das Hannes Kilian 1953 von ihr schoss: Im Sessel eines Kettenkarussells rauscht sie mit begeistertem Lachen dem Betrachter ungebremst entgegen. Entstanden ist das Bild im Jahr, als die ausgebildete Balletttänzerin ihren Beruf aufgab, um sich in ein neues Leben zu stürzen: Sie heiratete mit dem 20 Jahre älteren Fotografen, der zwei Töchter aus erster Ehe mitbrachte, eine neue Familie – und einen neuen Beruf.

Früher Wechsel auf die andere Seite

1928 in Rechberg geboren, hatte Gundel Kilian als Schülerin mit dem Stuttgarter Schlittschuh- und Rollschuhclub trainiert, im Sommer auf einer Bahn in Bad Cannstatt, im Winter ging es mit dem Zug nach Mannheim, wo es eine Kunsteisbahn gab. Nach dem Krieg setzte sie gegen die Eltern eine Ausbildung zur Tänzerin an den Württembergischen Staatstheatern durch. Jeden Morgen fuhr die 17-Jährige damals mit dem einzigen Zug um fünf Uhr morgens von Schwäbisch Gmünd, wo ihre ausgebombte Familie gelandet war, nach Stuttgart und trainierte für sich, bis der Unterricht begann. 1948 erhielt sie ihr erstes Engagement. 1950 lachte sie dann Hannes Kilian, der bei einer Ballettpremiere fotografierte, in einer Seitengasse an.

Dass sie den hart erarbeiteten Tänzerberuf mit der Heirat aufgeben musste, sieht Gundel Kilian im Rückblick durchaus auch kritisch. „Finanziell hatten wir keine Wahl. Dafür aber habe ich von meinem Mann das Fotografieren wirklich von der Pike auf gelernt“, sagt sie und ist bis heute dankbar, dass sie durch den frühen Wechsel auf die andere Seite nie den Kontakt zum Theater verloren hat. „Ich habe als Fotografin in Stuttgart jede Oper, jedes Schauspiel, jedes Ballett mehrfach gesehen und habe es genossen. Das ist ein Schatz, von dem ich zehre.“ 1955, ihr Mann hatte in Paris zu tun, hatte sie bei der Premiere einer Operninszenierung von Günther Rennert ihren ersten Einsatz mit der Kamera. Fortan hielt sie in Stuttgart die Stellung, wenn ihr Mann das Ballett auf Tourneen begleitete. Als Hannes Kilian schwer erkrankte, schmiss sie den Laden alleine. Marcia Haydée 1969 auf der Gangway beim Abflug nach New York, Reid Anderson mit seinen vier Starsolisten, John Cranko bei den Proben zu seinem letzten Stück „Spuren“: Gundel Kilians aufmerksamer Blick hat an der Stuttgarter Ballettgeschichte mitgeschrieben.