Sirko Junghans musste in die neue Strecke erst eingelernt werden. Foto: Haas

Sirko Junghans gehört zum Pool der Shuttle-Lokomotivführer, die kurzerhand geschult wurden, um Frachtzüge über die Ausweichstrecke zu befördern. Eine Notlösung in Zeiten, wo durch die Sperrung der Rheintalstrecke jede mögliche Route herhalten muss.

Tübingen - Die dicke Ludmilla stammt aus der ehemaligen Sowjetunion. Sie schluckt 600 Liter Diesel die Stunde, hat einen 16-Zylinder-Motor und museumsreife Scheibenwischer, die sich mit einem stabilen Hebel in Gang setzen lassen. Sirko Junghans fährt sie gerne – aber selten. „Das ist eher die Ausnahme“, sagt der 36-Jährige und klettert in Tübingen die Stufen der Diesellokomotive hinauf. Es ist 10.26 Uhr und im nur wenige Minuten entfernten Güterbahnhof wartet an diesem Donnerstagvormittag ein Frachtzug auf seine Weiterfahrt. Er ist schon mehrere Stunden verspätet, erst wurde er am Bodensee aufgehalten, dann in Kornwestheim.

Ohne die dicke Diesel-Ludmilla wäre die Reise zu Ende, denn die eingleisige Trasse von Tübingen nach Horb ist nicht elektrifiziert. Junghans gehört zum Pool der Shuttle-Lokomotivführer, die kurzerhand geschult wurden, um Frachtzüge über die Ausweichstrecke zu befördern. Eine Notlösung in Zeiten, wo durch die Sperrung der Rheintalstrecke jede mögliche Route herhalten muss – zumal die Gäubahnstrecke noch ein paar Tage eine Baustelle ist.

Im Güterbahnhof angekommen, dauert es nur ein paar Handgriffe, und die alte Ludmilla ist vor die moderne E-Lok gespannt. Die beiden stehen Puffer an Puffer, dahinter 21 Wagen, alle voll beladen, ein Gewicht von 1265 Tonnen. Als die Signale auf grün stehen, geht es los. „Die Umleitung ist für alle eine Herausforderung“, sagt Junghans. Er erzählt von den Schwierigkeiten dieser Tage. Erst musste er sich streckenkundig machen, das heißt, er fuhr zum Einlernen bei einem Kollegen mit. Es wurden aus ganz Deutschland Diesellokomotiven zum Shuttle-Verkehr nach Tübingen gebracht, und der Personenverkehr auf der Strecke wurde deutlich zurückgefahren. Wo sonst fast nie Güterzüge unterwegs sind, reiht sich nun einer an den anderen, momentan rund 35 Fahrten am Tag. Gefahren wird auch nachts. Die Streckenruhe ist aufgehoben worden.

Der Zug ist für viele Fotografen ein Highlight

Unterwegs ist Ludmilla eine Attraktion. Mit der Kamera im Anschlag warten Trainspotter am Rande der Gleise und drücken ab, wenn die russische Schönheit vorbeirollt. „Vor allem sonntags stehen überall Fotografen“, erzählt Junghans. Er kennt die Hartnäckigkeit der Sammler. Manche drehen Videos, andere knipsen an den landschaftlich charmantesten Punkten. Im kleinen Bahnhof von Bieringen sitzt ein älterer Herr im Klappstuhl – und schaut dem Zug hinterher. Wie andere fernsehen, so scheint er Frachtzüge zu beobachten.

Für Junghans, der es gewöhnt ist, auf Güterzügen durch Industrielandschaften zu fahren, oft auch nachts, ist das Neckartal ein bisschen wie Urlaub. „Ganz schön grün ist es hier“, sagt der Lokführer. Bei den Fahrten hat er aber nicht all zuviel Zeit, um den Blick schweifen zu lassen. Rechts grasen ein paar Kühe, linker Hand mäandert der Neckar vor sich hin. Die Sicherheitsfahrtschaltung zwingt ihn zur Konzentration, alle 30 Sekunden muss der Lokführer ein Pedal drücken oder einen Knopf bedienen. Sonst droht eine Zwangsbremsung.

Ohne Zwischenstopps kommt Ludmilla schnell voran, durch Horb fährt sie durch. Eine Stunde nach Start kommt sie in Oberndorf an, wo es genügend Platz gibt, um auf den Gleisen zu parken. Der nächste Frachtzug wartet schon auf die Diesellok. In ein paar Minuten soll es wieder zurück gehen Richtung Tübingen.