Günter Verheugen war vor seinem Wechsel zur SPD in der FDP und enger Weggefährte Hans-Dietrich Genschers. FDP-Chef Lindner schätzt er nicht. Foto: NDR

SPD-Kanzlerkandidat Schulz? Ohne schlüssiges Konzept. FDP-Chef Lindner? Auf strammem Rechtskurs. So düster sieht das sozialliberale Urgestein Günter Verheugen die Lage. Die Spekulationen über Sozialliberal oder eine Ampel-Koalition sind für ihn deshalb nichts weiter als „Machtspielchen“.

Berlin - SPD-Kanzlerkandidat Schulz? Ohne schlüssiges Konzept. FDP-Chef Lindner? Auf strammem Rechtskurs. So sieht das sozialliberale Urgestein Günter Verheugen die Lage.

Herr Verheugen, neuerdings gilt in der SPD sozialliberal wieder als schick. Brauchen wir einen sozialliberalen Aufbruch?
Fangen wir mit der Europäischen Union an. Die war immer wirtschaftsliberal, gesellschaftspolitisch konservativ und an sozialer Gerechtigkeit mangels sozialpolitischer Zuständigkeit nicht besonders interessiert. Deshalb wäre ein sozialliberaler europäischer Aufbruch dringend nötig. Die Auswüchse eines exzessiven Kapitalismus, verbunden mit einer immer schneller voranschreitenden Globalisierung führen im Ergebnis zu einem Freiheitsverlust für viele und zu immer stärkerer sozialer Ungleichheit. Das birgt ein enormes globales Konfliktpotenzial. Deshalb muss man sich die Mühe machen, über eine Reform des Kapitalismus nachzudenken. Ich bin fest davon überzeugt, dass nur ein vereinigtes Europa in der Lage wäre, den gefährlichen Weg zu stoppen, auf dem wir uns befinden. Man kann die Globalisierung nicht zurückdrehen wie eine Uhr, aber man muss ihr einen politischen Ordnungsrahmen verpassen.
Kein geringer Anspruch. Sonst noch was?
Wir brauchen einen sozialliberalen, europäischen Ansatz bei den gesellschaftlichen Veränderungen, die wir erleben werden durch Digitalisierung, Automatisierung, künstliche Intelligenz und Robotik. Ich bin irritiert angesichts der Blauäugigkeit, mit der uns in Brüssel und Berlin eine schöne neue digitale Welt verkündet wird, ohne über die sozialen Folgen nachzudenken. Es wird, wenn wir nicht aufpassen, immer mehr Menschen geben, die in der Arbeitswelt – ich muss es brutal sagen – schlicht überflüssig werden. Es spricht doch Bände, wenn führende Manager inzwischen von einem bedingungslosen Grundeinkommen schwärmen. Für einen Sozialliberalen ist der Einzelne und dessen Fähigkeit zur Selbstbestimmung der wichtigste Bezugspunkt. Deshalb wird er alles tun, um zu verhindern, dass wir in eine Gesellschaft abdriften, in der viele Menschen nicht mehr gebraucht werden.
Wer soll das denn bitte zu einer sozialliberalen europäischen Idee ausbauen? In der EU geben sozialistische, konservative, nationalistische und ultramarktliberale Stimmen den Ton an . . .
. . . ich habe da nur eine einzige Hoffnung, und das wäre eine moderne Sozialdemokratie, die sich auf ihre internationalistische Tradition besinnt und europäisch agiert. Die SPD darf das Thema soziale Gerechtigkeit nicht aufgeben. Was wir brauchen ist eine praxistaugliche Verbindung von Freiheit und Gleichheit. Freiheit ohne Gleichheit ist ein Freifahrtschein für Skrupellosigkeit. Gleichheit ohne Freiheit führt zu Unterdrückung.
Ist angesichts dessen die SPD aktuell zu national orientiert und rückwärtsgewandt?
Die SPD konzentriert sich nur auf Korrekturen am Sozialsystem. Aber damit begegnet man in keiner Weise den vollkommen neuen Herausforderungen. Die Sozialdemokratie neigt zur Fürsorglichkeit. Der Sozialliberale nicht, er will zur Eigenständigkeit befähigen und den Menschen auf dem Weg dahin helfen. Klingt nach einem kleinen Unterschied, ist aber wesentlich.
Also war die Arbeiterbewegung ihrem Wesen nach sozialliberal?
Aber sicher. Da ging es niemals nur um materielle Sicherheit, sondern immer auch um Freiheit, Emanzipation und Gestaltungsanspruch. In dieser Tradition brauchen wir übrigens unbedingt die Wiederbelebung der uralten liberalen Idee, die Arbeitnehmer am Produktivkapital zu beteiligen. Das haben schon Friedrich Naumann und Theodor Heuss gefordert: Aus Industrieuntertanen müssen Wirtschaftsbürger werden, als Teil ihrer Bürgerrechte. Die heutige Gerechtigkeitslücke wird sich jedenfalls nicht mit klassischer Sozialpolitik lösen lassen. Man muss die Wurzel des Übels anpacken und die Arbeitnehmer am Unternehmen und am Unternehmensertrag beteiligen.
Sehen Sie für Deutschland eine sozialliberale Perspektive?
Kurzfristig nicht. Ich rede über eine langfristige geistige Orientierung, über die Art und Weise, wie man ganz grundsätzlich politische Fragen angeht. Man kann sich nicht einfach mal nach einer Wahl ein, zwei Stunden zusammensetzen und sagen: So, jetzt machen wir mal Sozialliberal. Eine Politik verdient jedenfalls nicht allein schon dadurch diesen Namen, dass eine Partei, die das Soziale im Namen führt, sich mit einer anderen, die sich liberal nennt, zusammentut.
Nach der Saarlandwahl ist die Begeisterung bei der SPD für ein Bündnis mit der Linken abgekühlt. Plötzlich sendet Martin Schulz sozialliberale Signale. Muss einem da nicht schwindelig werden?
Ich weiß nicht, ob Rot-Rot-Grün wirklich mehr war als ein Gedankenspiel, und ich stimme denen zu, die sagen, dass dieses Gedankenspiel der SPD nicht genützt hat. Sie hat wenige Gemeinsamkeiten mit der Linken. Wenn man einen Wahlkampf für eine bestimmte Konstellation machen will, müsste man schon vorher erklären, zu welchem Zweck. Bei Rot-Grün konnten wir das 1998. Aber bei Rot-Rot-Grün und übrigens auch bei der Ampel mit Grünen und FDP können wir es nicht. Alle möglichen Mehrheitskonstellationen sind nichts weiter als Machtspielchen. Es fehlt das Projekt, für das sich Wähler begeistern können.
Läuft es dann am Ende doch wieder auf eine große Koalition hinaus?
Aus heutiger Sicht ist eine Neuauflage der großen Koalition die wahrscheinlichste Variante. Auch in diesem Fall kann dann niemand mit einer Regierung rechnen, die mit einem klaren konzeptionellen Verständnis dessen agiert, was in Deutschland und Europa geschehen muss. Ich frage mich angesichts dieser Ideenarmut manchmal, wo die Sozialliberalen im Land eigentlich geblieben sind? Wo ist deren Stimme? Die alten Sozialliberalen – ich nehme mich da nicht aus – haben sich als unfähig erwiesen, die Idee nach 1982 am Leben zu halten.
Christian Lindner sagt, die FDP habe sich verändert. Könnten Sie sich, wenn Sie jünger wären, vorstellen, für ihn ein zweites Mal als Generalsekretär zu arbeiten?
Nein! Viele Veränderungen sind Marketing, den Schwerpunkt der Partei hat Lindner nach rechts verschoben, zielsicher zwischen AfD und Union. Nehmen Sie nur die radikalen Positionen zur Türkei und zu Griechenland. Wirtschaftspolitisch ist die FDP alter Wein in neuen Schläuchen. Menschen wie Gerhart Baum und Burkhard Hirsch, die für Rechtsstaatlichkeit und Bürgerrechte kämpfen, sind einsame Rufer in der Wüste der heutigen FDP, schade.
Die SPD war nur erfolgreich, wenn sie neben einem Gerechtigkeits- auch einen Modernisierungsimpuls setzen konnte. Kanzlerkandidat Martin Schulz gibt den Menschen eher das Gefühl, sie behüten zu wollen, ihnen „die Kontrolle über ihr Leben“ zurückzugeben . . .
Bisher kenne ich noch kein schlüssiges Konzept, für das Martin Schulz steht. Ich unterstütze es, wenn es ihm um Selbstbestimmung und persönliche Autonomie geht. Ich will aber wissen, wo er den Kontrollverlust sieht, wer oder was dafür verantwortlich ist und was er dagegen machen wird. Will er eine Reform der Sozialsysteme, des Arbeitsmarktes, der Bildung, der Vermögensbeteiligung? Ich wäre mit allem einverstanden, wenn am Ende stünde, dass die Menschen in dieser Gesellschaft weniger Fremdbestimmung zu erdulden haben.