Das Stahlgerüst steht, der Grundstein folgt noch – S-21-Baustelle in Stuttgart Foto: Lichtgut/Max Kovalenko

Polit-Prominenz macht sich rar bei der Grundsteinlegung für Stuttgart 21. Manchen stört das. Die Probleme des Projekts sind aber andere, meint StN-Chefredakteur Christoph Reisinger.

Stuttgart - Über den Grundstein von Stuttgart 21 wird es dereinst heißen: in aller Stille beigesetzt. Denn Prominenz aus Kommunal-, Landes- und Bundespolitik macht sich rar. Das erhitzt die Gemüter. Groß ist offenbar die Versuchung, Wegbleiben als mangelnde Unterstützung für das Mega-Bahnprojekt Stuttgart–Ulm zu deuten, dessen Gelingen gerade die großen Abwesenden wie Ministerpräsident Winfried Kretschmann, Stuttgarts Oberbürgermeister Fritz Kuhn oder Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt von Amts wegen mit Nachdruck fördern müssen.

Geschenkt. Schließlich geht es nicht darum: Wer hat mehr, wer weniger nachvollziehbare Gründe für sein Fernbleiben von einer Grundsteinlegung, die zwei Jahre nach Baubeginn erfolgt? Vielmehr zählt: Wer trägt was dazu bei, die vier vorrangigen Ziele zu erreichen, die sich heute mit S 21 verbinden? Die da sind: eine zeitgemäße Verkehrsanbindung der Region gewährleisten, die Beeinträchtigungen durch den Bau so gering als möglich und die Kosten in einem halbwegs vertretbaren Kosten-Nutzen-Verhältnis halten und – für die Stadt besonders wichtig – endlich zur Planbarkeit aller weiteren Projekte gelangen, die sich aus S 21 oder seiner Bauzeit ableiten.

Vielen Vorbehalte

Da ist immerhin festzuhalten: Die Bereitschaft, das Projekt voranzubringen, wirkt in Regierungen und Verwaltungen größer als noch vor drei Jahren. Übrigens auch bei der Bauherrin Deutsche Bahn. Es bewegt sich was; davon wird auch der Grundstein zeugen. Aber ohne Schwung.

An grundsätzlichen Widerständen gegen Stuttgart–Ulm liegt das nur noch zu einem sehr kleinen Teil. Nicht, dass die vielen Vorbehalte gegen das Projekt ausgeräumt wären. Und selbstverständlich bleibt Protest dagegen eine legitime Form bürgerschaftlichen Engagements. Aber auch die härtesten S-21-Verächter kommen, ein Minimum an Realitätssinn vorausgesetzt, an zwei Erkenntnissen nicht mehr vorbei: Die entscheidenden Weichen sind seit Jahren, teils Jahrzehnten gestellt. Und noch so aktiver Widerstand hat zumindest seit dem Volksentscheid 2011 keinen Deut mehr am Meinungsklima zu ändern vermocht.

Woher dann all die Verzögerungen? Die wahrheitsgemäße Antwort fällt wenig schmeichelhaft aus für das Land. Denn die Schwierigkeiten, mit denen S 21 behaftet ist, kleben inzwischen an so ziemlich jedem Großprojekt, das in Deutschland erdacht oder durchgezogen wird. In einem Land, über das Einwanderer aus armen, aber jungen Gesellschaften so häufig sagen: Es sei wunderschön, reich und sauber – aber voll von alten Menschen, die nur noch wollen, dass alles so bleibt, wie es ist. Obwohl alle wissen: Nichts kann bleiben, wie es ist.

Musterfall für die Geschichte Deutschlands im frühen 21. Jahrhundert

Aus diesem Blickwinkel wird die Geschichte von S 21 zu einem Musterfall für die Geschichte Deutschlands im frühen 21. Jahrhundert: mit der Legitimation des Projekts, die rechtlich einwandfrei war und doch nicht getragen hat, mit allen Motiven und hysterischen Übertreibungen der Ablehnung, mit den neuen Formen und Beteiligten des Protests, mit den politischen Überfrachtungen durch eine teils fragwürdige Auslegung von Denkmal- oder Artenschutz. Und in der Summe mit immer neuen Vorwänden, Verantwortung abzuwälzen, Entscheidungen aus dem Wege zu gehen.

Es kommt ja nicht von ungefähr, dass sich Dobrindt vom Bundesrechnungshof – vereinfacht gesagt – ins Stammbuch schreiben lassen muss, er solle sich doch endlich mal zur Kostenkontrolle im größten Projekt des größten Unternehmens in Staatsbesitz aufraffen. Dobrindt ist bekanntlich kein S-21-Gegner. Aber von denen hängen Fortgang und Erfolg des Projekts auch so wenig ab wie von der Gästeliste für die Grundsteinlegung.

christoph.reisinger@stuttgarter-nachrichten.de