Freundlichkeit wirkt ansteckend, Unfreundlichkeit auch. Foto:  

Es kostet keine Anstrengung, jemanden zu grüßen. Warum gehen dann so viele Menschen grußlos aneinander vorbei, fragt sich Kommentator Jan Sellner.

Stuttgart - Ist Ihnen auch schon aufgefallen: viele Menschen grüßen nicht. Ob das früher anders war? Jedenfalls ist es heute so. Besonders in der Stadt. Die Stadt hat viel Kultur, aber keine Grüß-Kultur.

Mit diesem Mangel steht Stuttgart nicht alleine. In der Großstadt, je größer je ausgeprägter, scheint keine Zeit zum Grüßen zu sein. Meist geht es darum, schnell voranzukommen. Beim Einkaufen oder im Verkehr. Augen zu und durch – der andere wird nur als Hindernis wahrgenommen. Die Passanten in der Stadt sind Slalomschlangen, die es zu umkurven gilt. Diese Hast spiegelt sich in vielen Gesichtern. Dass Stuttgart in dieser Hinsicht anders wäre – eine Stadt des Lächelns vielleicht – ist eine Träumerei. Von wunderbaren Ausnahmen abgesehen.

Dazu gehört der Mann an der Pforte, dem es offenkundig eine Freude ist, möglichst viele Menschen namentlich zu begrüßen. Dazu gehört auch der Rentner, der zufällig einem jungen Paar begegnet, das verliebt in die Sonne blickt. „Genießen Sie den Frühling. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag“, sagt er unvermittelt und schafft mit seinem Gruß einen Augenblick freudigen Erstaunens. Solche kleinen Momente sind es, in denen sich der Satz zu bestätigen scheint, den ein Schreibwarengeschäft auf seine Papiertüten druckt: „Leben ist das Bunte und Fröhliche. Nicht das Graue und Traurige.“ Zu den erfreulichen Ausnahmen gehören auch viele Menschen mit geistiger Behinderung. Aus einem unbekannten Grund tun sie sich leichter, ihr Gegenüber zu grüßen. Was behindert eigentlich uns daran, es genauso zu machen?

Grüßen ist ein Kinderspiel

Gerade weil diese Beispiele so selten sind, lohnt es sich, dafür zu werben. Zumal die verbreitete Grußlosigkeit auch unschöne Geschwister hat: die Unfreundlichkeit, der Missmut, die Genervtheit. Die Stadtbahnen sind voll davon. Auch die Autos, die sich durch den Berufsverkehr quälen. Ebenso viele Läden und Lokale. Davon geht Ansteckungsgefahr aus. Glücklicherweise gilt das auch für die Freundlichkeit und ihre schönen Begleiter – etwa die Aufmerksamkeit. Umso mehr müsste es im allgemeinen Interesse sein, sich damit zu umgeben.

Mit dem Grüßen fängt’s an. Eigentlich ein Kinderspiel; viele Kinder beherrschen es dementsprechend gut. Es braucht dafür nur ein Wort – „Hallo“ – oder zwei: „Grüß Gott“ oder „Guten Tag“. Alternativ ein Kopfnicken. Der Energieaufwand dafür ist verschwindend gering. Der Rückfluss an positiver Energie meist um ein Vielfaches größer. Grüßen macht keine Mühe und kostet nichts. Im Gegenteil: Wegsehen strengt deutlich mehr an. Am Ende ist es eine Frage der Einstellung.

„Wenn sich Wege kreuzen“, schrieb jüngst eine Leserin, „sollte man nicht aneinander vorbei gehen“. Das ist keine Aufforderung, jede und jeden am Samstagmorgen auf der Königstraße zu grüßen, vielmehr ein freundlicher Hinweis, aufmerksamer unterwegs zu sein. Gerade in der Stadt. Es wäre doch was, wenn es gelänge, den Grad des Grüßens in Stuttgart um ein paar Prozentpunkte zu erhöhen, auch wenn man’s natürlich nicht messen, sondern nur fühlen kann. In diesem Sinne: Seien sie herzlich gegrüßt!

jan.sellner@stzn.de