Grünes Spitzentandem: Claudia Roth und Jürgen Trittin Foto: dapd

Die Grünen liefern sich eine offene Rangelei über ihre personelle Aufstellung im Bund. Urwahl ja oder nein?

Berlin - Er hastet nicht mehr, er schreitet. Früher, als gäbe es kein Halten mehr, stürmte er regelrecht ans Mikrofon, schaute wahlweise kämpferisch oder augenzwinkernd ins Rund – und legte los. Vor dem Deutschen Bundestag so wie vor Parteitagen, die bei den Grünen Delegiertenkonferenzen heißen. Heute legt Jürgen Trittin noch immer los, aber überlegter, kalkulierter. Nicht erst, seit der Bremer diese Dreiteiler-Anzüge trägt und auch im Fitnessstudio lernt, sich zu sammeln, auf den Punkt fit zu sein und konzentriert eine Übung nach der anderen zu absolvieren. Der Mann arbeitet an sich, büffelt Fakten, studiert Akten mit dem Ehrgeiz eines ambitionierten Spitzenpolitikers, der ein solides Wissen nicht nur zur Schau stellen will. Der Spitzenkandidat für die Bundestagswahl 2013 werden will.

Sie hastet immer noch, zu schreiten ist nicht ihr Tempo. Als gäbe es kein Halten mehr, stürmt Claudia Roth durch den Bundestag oder über die Parteitagsbühne. Meistens kämpferisch, selten augenzwinkernd. Angestrengt wirkt sie dabei oft, doch es säße einem Trugschluss auf, wer glaubte, diese schrill gefärbte Allgäuerin könne sich nicht sammeln, auf den Punkt fit sein und konzentriert eine Aufgabe nach der anderen absolvieren. Die Frau arbeitet an sich, ein Ohr immer am Puls der Basis mit dem Ehrgeiz der Parteivorsitzenden, die den Grünen-Laden zusammenhalten will. Die Spitzenkandidatin für die Bundestagswahl 2013 werden will.

Claudia Roth kann nur gewinnen

Auch darum ist es Claudia Roth an diesem Montag höchstselbst, die den Vorschlag verkündet, die Partei möge mit einer Doppelspitze in den Bundestagswahlkampf 2012 starten: Bis September können sich Kandidaten bewerben – und allein für den Fall, dass tatsächlich mehr als zwei Bewerber antreten möchten, entscheiden die rund 60.000 Mitglieder an der Basis in Form einer Urwahl, wer die beiden Grünen-Spitzen sein sollen. Vorstand und Parteirat haben dieses Vorgehen abgesegnet. Im April kommt in Lübeck ein kleiner Parteitag zusammen, um die Kandidaten-Auslese vorzubereiten.

Dass bisher nur sie selbst, Claudia Roth also, ihre Kandidatur erklärte, Jürgen Trittin allerdings beharrlich schweigt, nimmt sie hin. „Ich nehme die grundsätzliche Bereitschaft nicht zurück, mich zur Verfügung zu stellen. Aber ich mache jetzt nicht den Startschuss für eine Personaldebatte. Auf Namen haben wir intern uns noch nicht verständigt.“ Sagt’s und lässt den so (partei-)politisch korrekten wie unvermeidlich albernen Satz folgen: „Es gibt keine Personaldebatte.“ Ein Lachen erfüllt den Raum. Roth lacht nicht. Dass die Grünen keine Personaldebatte führen dürfen, scheint für Roth und Co. vor allem eine Stilfrage zu sein – niemand soll sich durch eine Vorfestlegung überrumpelt fühlen, das kommt bei der Basis per se schlecht an.

Der leiseste Verdacht, die ohnehin misstrauisch beäugten Spitzen-Grünen würden in ihren Berliner Büros Vorabsprachen treffen, kann parteipolitisch tödlich sein. Und weil bereits der Eindruck entstanden war, mit Jürgen Trittin stünde der alleinige Spitzenkandidat widerspruchslos fest, konnte Claudia Roth nur gewinnen – mit einem energischen „Haltet den Dieb!“.

Ring frei für die Grünen-Kür

Passgenau und ausgerechnet am Welt-Frauentag barst ihr also der Kragen, auf dass ihr das grünen-feministische Glaubensbekenntnis leichter über die Lippen kam: „Ja, ich stelle mich zur Wahl, wenn es um die Besetzung eines Spitzenteams für die Grünen geht.“ Taktik, GrünInnen-Mut – aber keine Säge an Trittins Stuhl.

„Das Spitzenduo wird demokratisch legitimiert“, ergänzt Roth am Montag. Gäbe es keine Urwahl, weil sich ohnehin nur zwei Spitzenkandidaten bewürben, könnte das Spitzentandem auf dem nächsten regulären Parteitag Mitte November in Hannover gekürt werden. In Hannover! Trittin-Country! Dort war er Landesminister, bevor er Bundesumweltminister wurde. Dort lernte er den heutigen SPD-Chef Sigmar Gabriel kennen und, nun ja, so gut es unter damaligen Studentenführer-Häuptlingen möglich ist: schätzen. Mit einander warm geworden sind die beiden nie.

Ring frei also für die Grünen-Kür – oder doch: geschlossene Gesellschaft, weil mit Trittin und Roth das Tandem längst gesetzt und vor allem eingespielt ist? Die beiden kennen einander aus dem Effeff, galten lange als das Traumpaar der Parteilinken. Doch was ist mit Renate Künast, Trittins eifriger Co-Vorsitzenden in der Bundestagsfraktion, und mit Cem Özdemir, der neben Roth als gleichberechtigter Vorsitzender die Parteigeschicke zu lenken versucht? Die großen vier sollen sich verständigt haben, heißt es – aufs Verfahren freilich, nicht auf Namen.

Die Realos meckern nicht

„Und das Verfahren ist der Star“, setzt Künast noch eins drauf. Pause. Während Trittin ausrichten lässt, er sei nicht einmal daran beteiligt gewesen, ein solches Verfahren mit auf den Weg zu bringen. Wer also ist der Star?

„Das nimmt denen doch ohnehin niemand ab. Die haben die Weichen auf Trittin/Roth gestellt, weil sie ja auch nicht auf nennenswerten Widerstand stoßen werden“, sagt ein Bundestags-Grüner aus dem Realo-Lager und schiebt hinterher: „Aber schreiben Sie nicht, die Realos meckern.“

Die Realos – die Grünen-Realpolitiker also – meckern nicht.

Nicht? Obwohl Roth wie Trittin dem linken Lager angehören? Den Realos fehlt schlicht die personelle Substanz, um es mit Trittin/Roth aufzunehmen. Renate Künast ist aus dem Rennen; nicht, weil sie im Herbst die Wahl gegen Berlins Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) verloren hätte, sondern vielmehr, weil sie seither nicht die Größe hatte, ihre Verantwortung dafür einzuräumen – so zumindest lautet der Vorwurf des linken Parteiflügels, der mit aller Verve gegen Künasts schwarz-grüne Träume Sturm gelaufen war. Und Cem Özdemir nimmt sich gleich selbst aus dem Rennen, indem er die Bedingung aufstellt, ein Spitzenkandidat müsse aus dem Kreis der Bundestagsabgeordneten heraus operieren können. Er selbst scheiterte daran, ein Mandat zu erobern. Doch der 46-Jährige ist jung genug, um sich Meriten als Parteichef zu erwerben.

Tandem Trittin/Roth als „ideale Ergänzung“

Jung genug? Trittin ist 57 Jahre alt, Roth und Künast sind 56. Am Montag in Berlin steht Simone Peters neben Roth. Die wahlkämpfende Spitzenkandidatin der saarländischen Grünen ist 46, wie Özdemir, und springt doch tapfer den „Alten“ bei. „Es spricht nichts dagegen, wenn die Grünen mit altbekanntem Personal antreten, zumal die Gesellschaft immer älter wird.“ Es wird viel gelacht, über Grüne, dieser Tage.

Doch was gibt es zu lachen, wenn Trittin plus/minus Roth an seiner Seite mit den SPD-Alphatieren Gabriel, Peer Steinbrück und Frank-Walter Steinmeier regieren muss? Der emeritierte Göttinger Politikwissenschaftler und Parteienforscher Peter Lösche kennt Trittin seit Jahrzehnten und billigt ihm hohe finanzpolitische Kenntnisse zu: „Es wäre interessant, wie sich Trittin und ein möglicher SPD-Kanzler Steinbrück arrangieren, wo sich beide doch für extrem kompetent halten. Allerdings fehlen SPD und Grünen 2013 mit vermutlich knapp 42 Prozent noch einige Stimmen, so dass Schwarz-Grün unter Umständen eine Verlockung ist.“

Eine Vorfestlegung auf Trittin sieht Lösche dennoch nicht einmal bei einer Koalition zwischen Union und Grünen. „Warum soll das Claudia Roth nicht auch bewerkstelligen? Sie hat Rot-Grün lieber, aber bei aller Schrillheit würde sie auch auf Schwarz-Grün umsteigen, wenn keine Alternative da ist und andernfalls eine Große Koalition droht.“ Überhaupt hält Lösche das Tandem Trittin/Roth für eine „ideale Ergänzung. Während sich Trittin zu einem – in Anführungsstrichen – Staatsmann entwickelt hat, kann Roth altes grünes Milieu aufwirbeln und es hinter die Partei- und Fraktionsspitze versammeln.“

So hastet die eine und schreitet der andere – vorankommen wollen beide.