Mit einer Verpflichtung zum sozialen Engagement wird am Thema vorbei diskutiert, erklärt die Bundesvorsitzende der Grünen Annalena Baerbock im Interview.

Stuttgart - Der Bundesvorsitzenden der Grünen geht es um gesellschaftliches Engagement ebenso wie um saubere Luft: Annalena Baerbock will Autobauern mit einer Quote für Elektroautos auf die Sprünge helfen, und neue Zielgruppen für das soziale Jahr gewinnen.

Frau Baerbock, Sie reisen unter dem Motto „des Glückes Unterpfand“ auf Ihrer Sommertour durch das Land. Was soll das bedeuten?

Des Glückes Unterpfand ist ein Teilsatz unserer Nationalhymne und Unterpfand heißt Garantie. Es heißt weiter, Einigkeit und Recht und Freiheit seien Garantie für Glück. In einer Zeit, wo genau diese Werte hinterfragt werden, machen wir uns auf die Suche von Orten der Freiheit, Recht und des sozialen Zusammenhalts, was man heute vielleicht zu Einigkeit sagen würde. Doch dieser soziale Kitt bröckelt. Ich bin daher mit einem Landarzt im ländlichen Raum unterwegs, hab mit Jugendlichen mit Migrationshintergrund über Identität diskutiert und einen ehrenamtlichen Mutter-Kind-Treff besucht, um am Ende mitzunehmen, wie man den sozialen Zusammenhalt stärken kann.

Dann müssen Sie doch eine flammende Befürworterin der CDU-Idee sein, dass junge Leute ein verpflichtendes gesellschaftliches Jahr machen sollen. Sind Sie das?

Das Ehrenamt und gesellschaftliches Engagement von jungen Menschen ist essenziell für unser Miteinander. Aber ein Pflichtjahr, gerade auch mit dem Fokus auf die Bundeswehr finde ich falsch. Um beim Dreiklang von Einigkeit und Recht und Freiheit zu bleiben: ein verpflichtendes soziales Jahr ist ja ein krasser Eingriff in die Freiheit eines jeden Jugendlichen. Sie wäre auch mit Blick auf das Grundgesetz schwierig. Für mich geht’s darum, vor allem das soziale, aber auch ökologische und europäische Jahr zu stärken.

Wie könnte das Engagement ausgebaut werden?

Wir brauchen mehr finanzielle Mittel. Derzeit können sich das freiwillige Engagement im Prinzip nur Jugendliche leisten, deren Eltern während der Zeit weiter für sie sorgen. Es sind auch Anreize nötig. Das könnte die Anrechnung von Wartezeiten auf einen Studienplatz sein oder ein besonderer Ausbildungsbonus.

Es gibt ja schon viele Abiturienten, die ein freiwilliges Jahr leisten. Sind sie die Zielgruppe?

Eines der Defizite ist bisher, dass nur ein Teil der Jugendlichen das Angebot der Freiwilligendienste überhaupt wahrnimmt. Entweder, weil nur sie es kennen oder nur sie die finanziellen Voraussetzungen dafür haben. Wir müssen das Angebot für junge Menschen aus allen gesellschaftlichen Schichten attraktiv machen. Es darf nicht die Frage sein, kann ich mir ein soziales Jahr überhaupt leisten.

So ein Jahr könnte ein Zeichen gegen den Egoismus sein. Muss nicht der Einzelne auch mal der Gesellschaft etwas zurückgeben und darf nicht nur die Hand aufhalten?

Dass junge Menschen sich fragen, was bringe ich in die Gesellschaft ein, wie funktioniert eigentlich die freiwillige Feuerwehr, wenn es niemand mehr machen würde, das finde ich total wichtig. Vielen meiner Freunde von früher hat auch persönlich der Zivildienst damals sehr gut getan. Es ist höchst bedauerlich, dass dadurch, dass die CDU das mit der alten Debatte der Wiedereinführung der Wehrpflicht verknüpft hat, ein guter Diskurs kaputt gemacht wurde. Es riecht ein bisschen danach, dass die Union ihre Identitätsdebatte daran aufhängen will und dass es nicht so sehr um die Sache geht. Die Defizite in der Pflege und in der Bundeswehr muss man anders lösen.

Halten Sie die Gesellschaft für zu egoistisch?

Nein, es gibt sehr viele Menschen, die sich engagieren. Es gibt tausende Projekte, bei denen Menschen das tun, was zum gesellschaftlichen Zusammenhalt gehört. Das Engagement ist groß, wenn die Menschen Projekte haben, bei denen sie sich sinnvoll einbringen können. Das hat die Hilfe für die Flüchtlinge gezeigt, zeigt sich aber auch in sich anderen Initiativen, wie Sportvereinen, beim Roten Kreuz oder der ehrenamtlichen Hausaufgabenhilfe. Aber es gibt natürlich auch diejenigen, die nur das tun, was ihnen selbst zugute kommt. Es geht mir daher um die Frage, wie stärken wir das gesellschaftliche Engagement von jungen wie von älteren Menschen. Und es geht darum, wie Politik die Grundlagen dafür schaffen kann, dass das gesellschaftliche Engagement überall ausreichend finanziell gefördert wird. Oft endet die Projektförderung nach einem Jahr, dann hat sich mühsam ein Nachbarschaftsverein aufgebaut und plötzlich sind die Mittel weg und die Menschen desillusioniert. Oder es gibt Gegenden, in denen es gar keine öffentlichen Räume, keinen Jugendclub mehr gibt. Soziales Engagement, Ehrenamt und soziale Infrastruktur müssen Hand in Hand gehen, da gibt es auf beiden Seiten noch große Lücken.

Ein Leib- und Magenthema der Grünen ist die Klimapolitik. Wissenschaftler warnen nun vor einer möglichen Heißzeit. Wie kann man aus Ihrer Sicht noch gegensteuern?

Zuallererst dürfen wir nicht mehr die Augen davor verschließen, dass die Landschaften glühen und wir in eine Dekade der Heißzeit gehen. Wir haben bereits eine globale Erderwärmung um ein Grad. Wir können die Klimakrise gar nicht mehr stoppen. Wir können sie nur noch eindämmen. Damit wir nicht fünf Grad Erderwärmung haben und zivilisiertes Leben nicht mehr möglich ist, müssen wir jetzt an den Kohleausstieg ran, an eine Verkehrswende, an eine andere Landwirtschaftspolitik.

Thema Verkehrswende und Luftreinhaltung: Die baden-württembergische Landesregierung versucht, Dieselfahrverbote in Stuttgart zu vermeiden und hat Revision gegen das Gerichtsurteil angekündigt. Ist das richtig, oder sollten Fahrverbote verhängt werden?

Für uns ist klar, dass Fahrverbote das letzte Mittel sind. Eigentlich müsste das Bundesverkehrsministerium Hardware-Nachrüstungen anordnen, damit diejenigen, die betrogen haben, auch den Schaden wieder gut machen. Dass der Verkehrsminister, aber auch die Bundeskanzlerin sich dem so verweigern, ist skandalös. Aber die Menschen, die an den belasteten Straßen wohnen, haben ein Recht auf Gesundheitsschutz. Wenn die Ziele für saubere Luft durch andere Maßnahmen nicht erreichbar sind, müssen notfalls auch Fahrverbote verhängt werden.

Sollte die Landesregierung also das Urteil akzeptieren und nicht in Revision gehen?

Das Problem ist doch, dass die Bundesregierung die Einführung einer blauen Plakette beharrlich verweigert und damit einen juristischen Flickenteppich und große Rechtsunsicherheit in Kauf nimmt.

Die Bundesregierung will die Hardware-Nachrüstung nicht anpacken. Gibt es andere Möglichkeiten, die Stickoxide in Städten wirkungsvoll zu bekämpfen?

Die Städte haben Klimaschutzpläne aufgelegt. Dieselnachrüstung ist da nur ein Teil. Stärkung des ÖPNV und auch Stadtbegrünung, die auch gegen die Hitze helfen würde, sind andere. Aber beim Dieselskandal geht es nicht nur um Stickoxidbelastung. Es geht auch um Rechtsstaatlichkeit. Es gab einen großen Betrug im großen Stil. Diejenigen, die diesen Betrug zu verantworten haben, müssen für den Schaden gerade stehen.

Die Folgen des Dieselskandals sind, dass weniger Diesel verkauft werden, obwohl sie bei der CO2-Belastung besser dastehen als Benziner. Ist das folgerichtig oder sollten die Leute lieber Diesel Euro 6 kaufen?

Wir brauchen vor allem eine umfassende Verkehrswende. Weg vom fossilen Verbrennungsmotor und eine Stärkung des ÖPNV statt ständig neuer und vor allem großer Autos. Es macht Sinn, dass alte Autos bis zum Ende gefahren werden. Im Neuwagenbereich sind emissionsfreie Autos die Zukunft. Da muss der Markt massiv umstellen. Durch Freiwilligkeit alleine funktioniert das nicht. Fatal ist, dass man gar kein emissionsfreies Auto kaufen kann. Die deutschen Automobilhersteller produzieren nicht mehr für den deutschen Markt. Sie haben viel zu spät damit angefangen und aus den Erfahrungen der anderen Länder sollte man auch über Quoten nachdenken.

Wie würde so eine Quote funktionieren?

Man könnte eine gestaffelte Quote in der Produktion vorgeben oder halt auch beim Verkauf. Das Ding ist: Etliche Leute würden ja gerne Elektroautos kaufen, aber es gibt Wartelisten von mehr als einem Jahr. Auch ausländische Hersteller produzieren nicht für den deutschen Markt, sondern für die Märkte, wo sie gerade massiv Elektroautos brauchen. Da hat man in der Vergangenheit die falschen Weichen gestellt. Deshalb muss man jetzt umsteuern. Sonst bekommen die deutschen Autobauer ein Riesenproblem. Meine Sorge ist es, dass es den Autobauern ergeht wie den Energiekonzernen, dass sie die Zeichen der Zeit nicht erkennen und somit den Industriestandort Deutschland und vor allem Tausende Arbeitsplätze gefährden.

Braucht die Autoindustrie eine Innovationspeitsche?

Für mich ist das vorausschauende Wirtschaftspolitik. Es muss ein Rahmen gesetzt werden, in welche Richtung geforscht und investiert werden soll. Unternehmen müssen wissen, in welchem Bereich sie investieren sollen. Wenn das unklar ist, haben wir Investitionsstau oder Stillstand. Das erleben wir derzeit im Verkehrsbereich. Es ist Aufgabe der Politik die Zukunft des Industriestandorts Deutschland durch eine entsprechende Rahmengesetzgebung zu sichern. Damit wir nicht abgehängt werden.

 Das Gespräch führten Renate Allgöwer, Joachim Dorfs und Wolfgang Molitor.