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Er ist gefällig, pragmatisch und nett. Aber das muss er auch sein. Grünen-Chef Cem Özdemir will in Stuttgart ein Direktmandat gewinnen - und Geschichte schreiben.

Stuttgart - Er ist gefällig, pragmatisch und nett. Aber das muss er auch sein. Grünen-Chef Cem Özdemir will bei der Bundestagswahl in Stuttgart ein Direktmandat gewinnen - und Geschichte schreiben.

Schon klar, Journalisten müssen kritisch sein. Aber was soll man gegen diesen Mann bloß sagen? Er sieht gut aus und kann gut reden. Er wirkt bescheiden, aber nicht unsicher. Er gibt sich engagiert, aber nicht verbohrt. Stets sucht er den goldenen Mittelweg. Was er sagt, klingt alles so vernünftig und ausgewogen, dass man sich manchmal wünscht, er würde mal eine ganz wilde Idee formulieren oder bissig werden.

Aber das macht er nicht. Cem Özdemir ist gefällig durch und durch. Auch seine Begleiter sind allesamt nett: ein Pressesprecher und zwei junge Wahlkampfhelfer. Einer trägt ein Shirt, auf dem "Cempion" steht. Ja, man darf sich Cempion nennen, wenn man Özdemir dabei hilft, den Stuttgarter Süden zu erobern. Dann würde aus dem Cempion Özdemir ein echter Champion.

Kein Grüner in Baden-Württemberg hat es bislang geschafft, bei einer Bundestagswahl direkt vom Volk gewählt zu werden. Alle kamen stets nur über die Landesliste ins Parlament. Cem Özdemir könnte es nun schaffen - im Wahlkreis I in Stuttgart. Die Grünen sind in der Landeshauptstadt beliebt wie noch nie. Bei der Kommunalwahl im Juni wurden sie stärkste Kraft.

Und was macht Özdemir? Er stapelt tief. Selbst Joschka Fischer und Rezzo Schlauch hätten in Stuttgart kein Direktmandat geholt, sagt er beim Redaktionsbesuch. Man dürfe jetzt nicht abheben. Um es tatsächlich in den Bundestag zu schaffen, müsse man nochmal kräftig zulegen. Einerseits.

Andererseits setzt er natürlich auf Sieg. "Wir gehen hier nicht mit angezogener Handbremse rein", sagt er. Im Kampf um ein Direktmandat zähle nur der Sieg. Der Zweite ist schon der erste Verlierer, dem man dann allenfalls noch einen "Achtungserfolg" bescheinige, so Özdemir. Der Cempion aber will keinen Achtungserfolg, er will sein Meisterstück abliefern.

Das Comeback begann mit einem Tiefschlag

Der Mann kann sich die Welt unheimlich schön reden. Aber ohne diese Eigenschaft wäre er vermutlich längst nicht mehr in der Politik. 2002 schien seine Karriere beendet, als herauskam, dass er von einem PR-Berater einen günstigen Kredit angenommen und dienstlich gesammelte Bonusmeilen privat verflogen hatte. Er ging nach Amerika, später ins EU-Parlament. Vergangenes Jahr dann sein innenpolitisches Comeback, das mit einem erneuten Tiefschlag begann: Die baden-württembergischen Grünen verweigerten ihrem prominenten Parteifreund im Oktober 2008 bei der Aufstellung der Landesliste für die Bundestagswahl einen aussichtsreichen Listenplatz. "Shit happens", sagte Özdemir und verließ die Veranstaltung. Doch er schmiss nicht hin.

Heute nennt es Özdemir "unglaublich reizvoll", in Stuttgart ohne Netz und doppelten Boden anzutreten. Würde er gewinnen, wäre dies auch ein Triumph über seine widerspenstigen Parteifreunde. Aber das sagt Özdemir nicht. Er spricht zwar von einem "Premiummandat", das er im Falle des Sieges erhalten würde. Aber das sei natürlich gegenüber den anderen, die nur über die Landesliste gewählt würden, nicht abwertend gemeint. Natürlich nicht.

Bundesweit hat es bislang nur der Parteilinke Hans-Christian Ströbele (70) geschafft, für die Grünen ein Direktmandat zu erringen. Zweimal (2002 und 2005) bekam er in seinem Berliner Wahlkreis die Mehrheit, und auch zu bei der kommenden Bundestagswahl tritt er wieder an.

Aber Stuttgart ist nicht Berlin. Ein Ströbele mit seinen linken Ansichten bekäme hier wohl keinen Fuß auf den Boden. Hier braucht es einen Özdemir, der gerne das Wort "pragmatisch" benutzt, der stolz erzählt, dass ihn inzwischen jeder fünfte Termin in Wirtschaftskreise führe und der in bestem Managerdeutsch erzählen kann, wer zu welchem Zweck "gut aufgestellt" sei.

Welche Welten zwischen Berliner und Stuttgarter Grünen inzwischen liegen, hat Özdemir gestern erlebt, als er in Stuttgart zu Wahlkampfzwecken Äpfel verteilte. Ein Parteifreund bat ihn, doch bitte Nachschub aus seinem Auto zu holen. Özdemir suchte und suchte nach dem Wagen - bis man ihn darüber aufklärte, dass der Parteifreund einen Porsche fährt. Ein Grüner im Porsche, soweit ist es also gekommen. Aber der pragmatische Özdemir hat auch damit keine Probleme. Sein Parteifreund habe ihm versichert, dass der Wagen nur sieben Liter Sprit auf 100 Kilometer verbrauche, sagt er.

Schnell, aber sparsam - so soll auch Özdemirs Wahlkampf sein. Was die Zahl der Mitglieder und das zur Verfügung stehende Geld angehe, sind die Grünen halt noch immer eine relativ kleine Partei. Umso wichtiger ist für die Grünen das Internet. Netzwerke wie facebook, studivz, aber auch youtube werden von den jungen Mitarbeitern Özdemirs täglich mit Filmen oder Bildern aus dem Wahlkampf versorgt. Özdemir (43) erklärt dies in der Sprache des Internet, was auch heißt: Menschen, die keine Anglizismen in der deutschen Sprache mögen, werden sich wohl manchmal ein bisschen schwer mit ihm tun. Wenn er zum Beispiel darüber spottet, dass die Klimakanzlerin Merkel am Nordpol "Eisbären gehackt" habe, dann beschreibt er damit kein Blutbad. Gemeint ist "gehugt", was soviel wie "umarmen" bedeuten soll.

Stuttgart 21:

Einen Begriff aber versteht in der Landeshauptstadt jeder: Stuttgart 21. Das Bahnprojekt ist immer noch höchst umstritten, und die Grünen kämpfen als einzige der größeren Parteien noch immer gegen die Tieferlegung des Bahnhofs. Dabei wähnen sie die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich. "Es ist sowas von offensichtlich, dass die Stuttgarter gegen das Projekt sind", sagt Özdemir und fügt hinzu. "Schon so manches Projekt ist noch auf der Zielgeraden gestoppt worden." An der Kostenfrage, so hofft er, könne das Vorhaben noch scheitern. Im Unterschied zu seinem Parteifreund Winfried Hermann aus Tübingen stellt er aber den zweiten Teil des Projekts, die Schnellbahntrasse nach Ulm, nicht in Frage. "Wir Grünen in Stuttgart sagen nicht Nein zum Ausbau der Trasse", sagt er. Aber das soll man natürlich nicht als Kritik an Hermann verstehen. Natürlich nicht.

Özdemir will auch nicht den Eindruck erwecken, als ziehe er populistisch gegen ein Projekt zufelde, das nicht mehr zu stoppen ist. Die Grünen hätten lieber einen Bürgerentscheid gehabt, sagt er. Aber jetzt mache man halt die Bundestagswahl auch zur Abstimmung über Stuttgart 21. Unrecht ist ihm das nicht. "Es muss wenigstens einen Stuttgarter Abgeordneten geben, der sich in Berlin gegen das Projekt einsetzt", wirbt er für sich.

Es wird spannend werden im Wahlkreis I in Stuttgart. Die CDU, die das Direktmandat zuletzt immer gewann, schickt den Rechtsanwalt Stefan Kaufmann (40) ins Rennen, die SPD ihre Landesvorsitzende Ute Vogt (44). Doch Özdemir redet Vogt geschickt aus dem Rennen. "Die eigentliche Auseinandersetzung ist die zwischen Kaufmann und mir", sagt er. Ein Duell also, kein Dreikampf. Dass Özdemir als Bundesvorsitzender der Grünen weniger in Stuttgart präsent ist als sein Konkurrent, sieht er nicht als Handicap. "Ich kenne die Region Stuttgart und komme aus ihr", sagt er. Im übrigen wolle er nicht Stadtrat werden, sondern Stuttgarter Interessen in Berlin vertreten.

Und dann ist die Stunde auch schon fast rum. Özdemir hat jede Frage klug beantwortet oder ist ihr geschickt ausgewichen. Nur einmal gerät der Vollprofi aus dem Konzept. Als er einer Kollegin sagt, dass er sie jetzt auch schon 15 Jahre kenne und sie sich - im Unterschied zum ihm - nicht verändert habe, weiß die Kollegin nicht, ob sie das wirklich als Kompliment verstehen soll. Lautes Gelächter in der Runde. Özdemir ist ob der Tatsache, dass diesmal sein Charme ins Leere lief, für einen Moment irritiert und fragt. "Wie war gleich noch mal die Frage?" Aber solche Momente dauern bei Özdemir nicht lange. Natürlich nicht.