Vor der Wahl ging er voraus, doch dann lag er klar hinten: Die Grünen Özdemir, Hofreiter und Göring-Eckhardt am Dienstag in Berlin Foto: dpa/Kay Nietfeld

Keine Experimente – nach diesem eher konservativen Motto hat die Grünen-Fraktion am Dienstag gehandelt und einem ihrer früheren Anführer eine herbe Abfuhr erteilt.

Berlin - Irgendwann kurz nach fünf am Nachmittag ist hinter den verschlossenen Türen eines Konferenzraums im Berliner Reichstagsgebäudes lauter Applaus zu hören. Die Tür geht auf, zwei große Blumensträuße werden hereingereicht. Spätestens in diesem Moment ist klar: Bei den Grünen bleibt alles beim Alten. Der Stuttgarter Bundestagsabgeordnete Cem Özdemir ist mit seinem Versuch gescheitert, gemeinsam mit der Bremer Kollegin Kirsten Kappert-Gonther per Kampfabstimmung die Führung der Grünen-Bundestagsfraktion an sich zu ziehen. Auch in den kommenden Jahren werden stattdessen Katrin Göring-Eckardt und Anton Hofreiter die Fraktion leiten.

Eindeutige Ergebnisse

Die genauen Ergebnisse liefert die Fraktion per Twitter: Im ersten Durchgang votierten 41 von 67 Abgeordneten für Göring-Eckardt und nur 19 für ihre Herausforderin. Im zweiten Durchgang bei den Männern setzt sich Hofreiter mit 39 Stimmen durch, Özdemir bekommt 27 Stimmen. So unspektakulär endet der Machtkampf in der Grünen-Bundestagsfraktion. Als die Rivalen wenig später vor die Kameras treten, ist von Groll wenig zu spüren. Die alten und neuen Fraktionschefs bedanken sich kurz für das entgegengebrachte Vertrauen, beschwören den Zusammenhalt und schalten nach zwei Sätzen um auf Attacke: gegen die schwarz-rote Bundesregierung, die beim Klimaschutz versage.

„Die Erde dreht sich weiter“

Kappert-Gonther sagt, dass sie ihre Arbeit als Fachpolitikerin jetzt wieder fortsetzen werde. Auch Özdemir gibt sich als guter Verlierer und nimmt seine Niederlage mit Humor. „Die Erde wird sich vermutlich weiterdrehen. Und die Sonne wird vermutlich wieder aufgehen“, sagte er. Es ist der Abschluss einer Auseinandersetzung, die Fraktion und Partei der Grünen zweieinhalb Wochen lang mächtig auf Trab hielt. Völlig überraschend hatten Özdemir und Kappert-Gonther Anfang September ihre gemeinsame Kandidatur erklärt. Und zwar ausgerechnet an einem Samstag nach einer Fraktionsklausur, wo von der bevorstehenden Kampfkandidatur noch keine Rede war.„Wir sind überzeugt davon, dass ein fairer Wettbewerb der Fraktion gut tut – nach außen wie nach innen“, schrieben die beiden damals. Es gehe darum, „mit neuem Schwung der Gegenpol einer schwachen Regierung zu sein“. Die beiden Herausforderer setzten also darauf, dass es in der Fraktion eine beträchtliche Unzufriedenheit mit der bisherigen Führung gibt.

Nicht in Revolutionslaune

Und tatsächlich ist es ja nicht so, dass die grüne Parlamentsgruppe in der Öffentlichkeit als besonders schlagkräftige Truppe wahrgenommen würde. Die Grünen, das scheinen derzeit vor allem die beiden charismatischen Parteichefs Robert Habeck und Annalena Baerbock zu sein. Sie sind die Könige der Umfragen. Das Gravitationszentrum ist jetzt die Partei und nicht mehr die Fraktion. Das ist neu für Bündnis 90/Die Grünen. Dies bedeutet allerdings nicht, dass auch die Bundestagsfraktion in Revolutionslaune wäre.

Noch bevor am Dienstagnachmittag im Reichstag die entscheidende Sitzung beginnt, hat sich bei vielen Teilnehmern der Eindruck verfestigt, dass sich bei der Abstimmung nicht viel tun und das alte Führungsduo auch das neue sein werde.„Da passiert nix“, raunt einer vom Realo-Flügel „Es würde mich wundern, wenn es einen kompletten Wechsel gäbe“, sagt ein anderer aus dem linken Lager. Und natürlich haben sie zuvor die Köpfe gezählt und genau überlegt, welcher der 67 Abgeordneten wie stimmen dürfte. Der Befund: Ein Sieg des Duos Özdemir/Kappert-Gonther wäre ein Wunder. Die Grünen-Statuten schreiben nicht nur eine Doppelspitze vor, sondern auch, dass mindestens eine Frau dabei sein muss. Deshalb gibt es – anders als bei anderen Parteien – zwei Abstimmungsrunden.

Weiter so

Nun geht es also weiter mit dem gewohnten Personal. Die 53-jährige Göring-Eckardt gilt vielen als farblos und zu sehr auf ihren eigenen Vorteil bedacht. Sie ist aber auch durchsetzungsstark. Die Thüringerin gilt als Frau der Mitte, sie ist fest in der evangelischen Kirche verankert. Gemeinsam mit Hofreiter leitet sie die Fraktion seit 2013. Der 49-jährige Bayer, ein promovierter Biologe, steht vor allem für die grünen Kernthemen Umweltschutz, Klima und Verkehrswende. Er gilt als authentisch, ein guter Redner ist er nicht. Während Göring-Eckardt dem Realo-Flügel angehört, zählt Hofreiter zur Parteilinken.

Bleibt die große Frage, was mit den beiden Herausforderern geschieht. Kirsten Kappert-Gonther hatte eigentlich nichts zu verlieren. Die 52-jährige Psychiaterin aus Bremen sitzt erst seit 2017 im Bundestag, kümmert sich dort um Gesundheitsthemen und Drogenpolitik. Sie gilt als ziemlich links, ist außerhalb ihres Fachgebiets aber bislang kaum in Erscheinung getreten. Das hat sich mit ihrer Kandidatur geändert, was ihr nicht zum Nachteil gereichen muss.

Ende einer Karriere

Und Özdemir? Der „anatolische Schwabe“, wie er sich gern bezeichnet, weiß jetzt, dass er wahrscheinlich nicht wieder aufrücken wird in die erste Reihe seiner Partei. Viele Jahre war der 53-Jährige aus Bad Urach Bundesvorsitzender der Grünen. Nach der Wahl 2017 erwog er bereits, als Fraktionschef zu kandidieren, machte dann aber wegen mangelnder Erfolgsaussichten einen Rückzieher. Er interessiert sich für Außenpolitik und Bürgerrechte. Während der Verhandlungen über eine Jamaika-Koalition im Bund setzte er darauf, Außenminister zu werden. Das ging bekanntlich schief. Gewissermaßen als Trost wurde ihm der Vorsitz im Verkehrsausschuss des Bundestages übertragen. Das ist ein wichtiges Thema für die Grünen, aber Özdemir ist damit bisher nicht so richtig warm geworden. Özdemir ist ein brillanter Redner, aber nicht unbedingt ein Mannschaftsspieler.

Oder doch noch Stuttgart?

Sollten die Grünen im Bund in absehbarer Zeit Regierungspartei werden, könnten sich vor allem die beiden Parteichefs Baerbock und Habeck sowie die beiden Fraktionsvorsitzenden Hoffnungen auf Ministerämter machen. Natürlich gälte auch einer wie Özdemir als ministrabel, aber dafür müsste die Partei auch ausreichend viele Ressorts bekommen. Und man darf nicht vergessen, dass er inzwischen auch schon zur älteren Garde gehört. In der Partei gibt es viele Talente, die 10 oder 15 Jahre jünger sind und ebenfalls Karriere machen wollen. Aber wer weiß – vielleicht tun sich für Özdemir auch noch andere Chancen auf. Es wird immer wieder spekuliert, dass ihn Baden-Württembergs grüner Ministerpräsident Winfried Kretschmann nach Stuttgart holen könnte, möglicherweise als Kronprinz. So wie im Bund wird im Südwesten im Jahr 2021 wieder gewählt. Kretschmann, der dann 72 Jahre alt sein wird, will es bekanntlich noch einmal wissen und strebt eine dritte Amtszeit an. So schnell wird sein politisches Erbe nicht zu verteilen sein.

Özdemir selbst hält sich am Dienstag nicht mit solchen Gedankenspielen auf. Nach seiner Niederlage in der Fraktion sagt er, dass er schon am Mittwoch wieder das Vergnügen habe, im Verkehrsausschuss auf Minister Andreas Scheuer von der CSU zu treffen. Und noch etwas sagt Özdemir: „Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren.“