Noch geht man korrekt miteinander um – aber das Konfliktpotenzial in der großen Koalition wächst kontinuierlich. Das beweist auch unsere Bildergalerie... Foto: dpa

Nach einem Jahr der Wunscherfüllung kommt die Koalition im Klein-Klein der Politik an. Modern gegen altbacken oder wirtschaftsfreundlich gegen marktvergessen – schon werden wahlkampftaugliche Konfliktlinien erprobt.

Berlin - Vielleicht muss man sich die Große Koalition wie ein Ehepaar auf Shopping-Tour vorstellen. Ein Jahr lang sind die beiden Partner losgezogen – jeder für sich! – und haben sich nach Herzenslust bedient. Die Mütterrente für den einen, die Rente mit 63 für den anderen. Das jeweilige Gegenüber musste das akzeptieren, selbst wenn es beim Blick aufs Familienbudget gewisse Zweifel beschlichen. Es war halt vorher so abgesprochen.

Aber irgendwann ist der schönste Einkaufsrummel vorbei. SPD und Union haben die Trophäen, die ihnen am wichtigsten waren, schon abgeholt. Aber das Zusammenleben muss auch ohne kaufrauschbedingte Glückshormone weitergehen. Genau in dieser Phase befinden sich die Partner jetzt. Der Regierungsalltag muss organisiert werden. Das macht weniger Spaß, ist mühsamer, und überall lauert Konfliktpotenzial. Die Stimmung wird gereizter. An einigen Stellen könnte es handfesten Krach geben.

Eine Übersicht über die aktuellen Gefahrenpunkte in der Koalition:

Rente mit 63

Aus Sicht der SPD ist das schon eine Provokation: Der Wirtschaftsflügel der Union mäkelt permanent an der Rente mit 63, also der von der Koalition geschaffenen Möglichkeit, nach 45 Beitragsjahren abschlagsfrei in Rente zu gehen, herum. Der Streit wird jedes Mal angefacht, wenn neue Zahlen zu den Anträgen auf die Rente mit 63 kommen. Ende Dezember hatten schon 206 000 den Antrag auf die Rente mit 63 gestellt. Einen Monat später waren es bereits 232 000.

Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) hatte ursprünglich gesagt, dass sie mit 240 000 Anträgen im ersten Jahr rechne. Nun sind auf beiden Seiten Spitzfindige unterwegs: Unionsvertreter argumentieren, das erste Jahr ende zwölf Monate nach Inkrafttreten des Gesetzes, also im Juni 2015. Deshalb sprenge der Ansturm alle Prognosen und sei ruinös für die Rentenkasse.

Daher fordern sie, dass anders als bisher nur diejenigen abschlagsfrei gehen dürfen, die auch wirklich 45 Jahre eingezahlt haben, und Arbeitslosenzeiten nicht mehr – wie im Moment – zu den Beitragsjahren gezählt werden. Das Meckern ist allerdings ohne jegliche Aussicht auf Erfolg, weil bei der Rente mit 63 nicht einmal eine Überprüfung vereinbart ist. Das Ministerium hat auch schon abgewinkt.

Flexi-Rente

Bei flexiblen Übergängen in die Rente müssen nach dem Willen der Unionsfraktion zusätzliche finanzielle Belastungen vermieden werden. Ihr arbeitsmarktpolitischer Sprecher, Karl Schiewerling (CDU), erklärt am Mittwoch in Berlin: „Dafür wollen wir keine neuen Steuergelder in die Hand nehmen, und es darf auch nicht zu zusätzlichen erheblichen Belastungen der Rentenkasse kommen, die beitragsrelevant werden könnten.“ Laut „Saarbrücker Zeitung“ hat sich die Union auf ein Modell zur Flexi-Rente verständigt.

Danach regen CDU und CSU an, dass Beschäftigte mit einer vollen Rente ihre Altersbezüge steigern können, wenn sie weiter selbst Beiträge dafür zahlen. Nach geltendem Recht ist ihnen das verwehrt. Die SPD reagiert laut Zeitung verhalten auf den Vorstoß. „Mit der Idee der Union wird der Rentenkasse Geld entzogen“, sagt die arbeitsmarktpolitische Sprecherin Katja Mast. Bei einem Durchschnittsverdiener im Westen würde sich die Rente für ein zusätzliches Arbeitsjahr aktuell um knapp 29 Euro erhöhen. Im Osten wären es gut 26 Euro mehr. Um auch für die Arbeitnehmer einen Anreiz zur Weiterbeschäftigung zu schaffen, soll ihnen der Beitrag zur Arbeitslosenversicherung erlassen werden.

Mindestlohn und Erbschaftsteuer

Etwas anders sieht die Lage da schon beim Streit um den flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn aus. Da ist zwischen Union und SPD vereinbart, dass überprüft wird, wie er wirkt: Ministerialbeamte, Arbeitgeber und Gewerkschafter treffen sich regelmäßig, um zu überprüfen, was an den Klagen aus der Wirtschaft über zu große Bürokratie dran ist.

In der Koalitionsrunde nach Ostern wollen sich, so das Versprechen der Kanzlerin, die Spitzen womöglich bereits auf Änderungen verständigen. In der Sache dürfte es allenfalls zu kleineren Erleichterungen bei den Pflichten zur Erfassung der Arbeitszeiten kommen. Allerdings belastet der Streit insofern das Klima in der Koalition, weil die SPD der Union vorwirft, vertragsbrüchig zu werden, indem sie kleinkariert gemeinsam gefasste Beschlüsse infrage stellt.

Höhere Steuern für Erben

Das Thema hat für beide Partner Symbolwert. Die SPD, zumal der linke Flügel, ist immer für mehr Umverteilung zu haben. Wer Vermögen erbt, so die sozialdemokratische Denke, soll über merkliche Steuern dafür sorgen, dass weniger Begüterten mit staatlicher Hilfe der Aufstieg gelingt. Die Union sieht dagegen vor allem die Lage der Familienunternehmen. Sie kann sich auch auf den Koalitionsvertrag berufen, wo SPD und Union verabredet haben, Erben von Betriebsvermögen nicht höher zu belasten, damit keine Arbeitsplätze verloren gehen.

Die Regierung ist im Zugzwang, denn das Bundesverfassungsgericht hatte die jetzige Rechtslage gekippt. Nun aber hat der Vorschlag von Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) zur Umsetzung des Urteils ein überraschendes Echo hervorgerufen: Beifall bei der SPD und Kritik vor allem beim Wirtschaftsflügel der Union.

Die sogenannten Familienunternehmen sind empört, weil Schäuble bei ganz großen Erbschaften von Betriebsvermögen künftig das Privatvermögen der Erben zur Begleichung der Erbschaftsteuerschuld anzapfen will. Außerdem gibt es Kritik an seinem Vorschlag, die Grenze für ganz große Unternehmen, bei denen eine Bedürfnisprüfung vor der Gewährung von Steuerprivilegien stattfinden soll, bei 20 Millionen Euro zu ziehen. An dieser Stelle droht kein Koalitionskrach, Schäuble könnte eher Ärger mit seinem eigenen Lager kriegen, was die ohnehin fällige Abstimmung mit SPD-geführten Ländern erschweren dürfte.

Konfliktpunkt Familienpolitik

Die SPD hat eine große Hoffnung und ein passendes Gesicht dazu: Manuela Schwesig. Aber wahrscheinlich ist es hier am besten, mit Volker Kauder, dem Unionsfraktionschef, zu beginnen. Der hatte der Ministerin bei ihrem beharrlichen Ringen um die Frauenquote „Weinerlichkeit“ vorgeworfen. Man hätte ihn damals zum Mitarbeiter des Monats im Familienministerium wählen sollen.

Dass ein, mit Verlaub, älterer Herr eine junge Ministerin mit einem Macho-Spruch mobbt, war für Schwesig und die SPD das Beste, was ihnen passieren konnte. Plötzlich waren die Frontverläufe wieder so, wie es sich SPD-Strategen immer wünschen: hier die junge, modern denkende Ministerin – dort die altbackene Herrenriege der Union. Klar, das ist ein Klischee, aber ein sehr wirkungsvoll zu instrumentalisierendes. Und Schwesig nutzt ihre Chance ausgezeichnet. Derzeit kämpft sie an zwei Fronten mit der Union – und gerne spitzt sie den Konflikt zu einem persönlichen Duell zu.

Zum einen muss sie gegen Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) antreten. Und schon der renommierte Gegner garantiert Schwesig einen beträchtlichen Imagegewinn. In der Sache geht es ums Kindergeld. Schäuble will es erhöhen, um sechs Euro. Aber Alleinerziehende und Eltern mit geringem Einkommen will er dabei nicht besserstellen. Die SPD will aber genau das und zudem ein um zehn Euro höheres Kindergeld. „Mit mir nicht abgestimmt“ nennt Schwesig Schäubles Vorschlag. Das ist ziemlich keck, denn die Kleiderordnung des Kabinetts sieht eigentlich eher vor, dass die Ressorts ihre ausgabewirksamen Projekte mit dem obersten Kassenwart abzustimmen haben.

Hinzu kommen immer wieder Vorstöße aus den Ländern. So hat sich Baden-Württembergs Finanz- und Wirtschaftsminister Nils Schmid (SPD) in die Debatte um das Kindergeld eingeschaltet. Er spricht sich dafür aus, das Kindergeld für Alleinerziehende für das erste Kind um 100 Euro im Monat zu erhöhen. Für alle weiteren Kinder sollte das Kindergeld um jeweils 20 Euro monatlich steigen. „Alleinerziehende zu entlasten ist eine zentrale Frage der sozialen Gerechtigkeit“, sagt er.

Der zweite Konflikt ist für die SPD noch verheißungsvoller. Mit einem „Entgeltgleichheitsgesetz“ will Schwesig gleichen Lohn für gleiche Arbeit durchsetzen und so die angebliche Diskriminierung von Frauen im Arbeitsleben bekämpfen. Die SPD sieht hier endlich wieder ein Gewinnerthema, mit dem die Sozialdemokraten sich in der Mitte der Gesellschaft positionieren. Deshalb erhält die Ministerin hier volle Rückendeckung. Und wenn die Union hier zögert – und genau das tut sie –, kann es der SPD nur recht sein. Umso schärfer sollen sich die unterschiedlichen Ansätze in der Gesellschaftspolitik den Wählern einprägen. Die Union kommt hier doppelt unter Druck, denn die Wirtschaft läuft gegen das Projekt Sturm, weil sie sich von einem neuen Bürokratie-Monstrum bedroht wähnt. Alles spricht dafür, dass von Manuela Schwesig angezettelte Konflikte zu einem Leitmotiv für den gesamten Rest der Legislaturperiode werden können. Hier liegt der öffentlich zelebrierte Streit in der Koalition im strategischen Interesse ihrer Partei.

Die politische Stimmung

Nach den jüngsten Rempeleien in der Großen Koalition wird CSU-Chef Horst Seehofer an diesem Donnerstag mit den SPD-Fraktionsvorsitzenden aus Bund und Ländern diskutieren. Bei dem Treffen in München geht es voraussichtlich um die Streitthemen von der energetischen Sanierung bis zum Mindestlohn. „Herr Seehofer hat die Möglichkeit, alle Themen anzusprechen“, sagte SPD-Fraktionschef Markus Rinderspacher am Mittwoch. „Wir freuen uns, dass er kommt.“ Teilnehmen wird auch SPD-Bundestagsfraktionschef Thomas Oppermann.

Die Unionsparteien CDU und CSU bleiben auch in dieser Woche unter ihrem Ergebnis von 41,5 Prozent, das sie bei der Bundestagswahl 2013 erzielten. Im Stern-RTL-Wahltrend liegen sie weiter bei 41 Prozent. Auch die Werte der anderen Parteien änderten sich im Vergleich      zur Vorwoche nicht: Die SPD kommt nach wie vor auf 24 Prozent, Linke und Grüne auf jeweils 9 Prozent, die FDP auf 5 Prozent. Nur die AfD muss Federn lassen und rutscht ab auf 6 Prozent. Auf die sonstigen kleinen Parteien entfallen ebenfalls 6 Prozent, ein Punkt mehr als in der Vorwoche. Der Anteil der Nichtwähler und Unentschlossenen beträgt 30 Prozent.

Fazit

Noch ist der Umgangston in der Koalition durchaus rücksichtsvoll. Vor allem, wenn man die Meinungsverschiedenheiten mit dem rüden Geholze in der Schlussphase der christlich-liberalen Koalition vergleicht. Aber die Zeit der Eintracht oder gar der Euphorie ist vorbei. Beiden Seiten geht es darum, Konfliktlinien deutlich zu markieren. Die Union will sich als Hüter der Wirtschaftsinteressen gegen die Verteilungspolitik der SPD anpreisen. Die Sozialdemokraten möchten vor den Wählern als gesellschaftspolitisch modern dastehen, die wissen, wie junge Familien ticken. Das, so hofft man, lässt die Union alt aussehen.