Der britische Premierminister David Cameron kämpft um die Herzen der Jugendlichen. Foto: Getty Images Europe

Angesichts der zunehmenden Angst vor Überfremdung macht sich Premier Cameron für britische Tugenden stark. Nach Erkenntnissen von britischen Behörden haben radikale muslimische Gruppen in jüngster Zeit Bildungseinrichtungen unterwandert. Nun sieht sich der Staat herausgefordert.

London - In Großbritannien wird in diesen Tagen viel über Werte gesprochen. Eine öffentliche Diskussion ist darüber entbrannt, die sich vor allem um die Frage dreht: Was ist britisch? Tee, Pubs, James Bond und Königin Elisabeth II.? Oder eher Eigenschaften wie Höflichkeit und der berühmte englische Humor?

Paula Williams und Vanessa Henderson treffen sich zum Frühstück in einem trendigen Café im Londoner Süden. Neben den Tischen stehen zwei Kinderwagen – in dem einen schläft ein achtmonatiges, in dem anderen ein dreizehn Monate altes Baby. Die anderen Kinder der beiden Mütter sind gerade in der Schule – Zeit also, um sich wieder einmal ausführlich auszutauschen. Über die Debatte um britische Werte können sie nur den Kopf schütteln. „Großbritannien ist doch über die Jahrhunderte nur durch Einwanderung zu dem Land geworden, was es heute ist“, sagt die 34-jährige Paula. Die Klasse ihres Sohnes setzt sich aus Engländern und Arabern, Indern und Afrikanern zusammen. Es sei eine gute Gemeinschaft sowohl unter den Kindern als auch unter den Eltern, ob sie nun Christen, Muslime oder Hindus seien. „Britishness durchzusetzen ist nicht sehr britisch“, betont Vanessa, die im schottischen Edinburgh geboren wurde, aber bereits seit vielen Jahren in der britischen Hauptstadt lebt.

Doch der Vorstoß von Premier David Cameron, britische Werte verstärkt an den Schulen zu vermitteln, kommt freilich nicht von ungefähr. Vor einigen Monaten erhielten die Behörden in Birmingham einen Brief, in dem von Strategien berichtet wurde, wie religiöse Fundamentalisten im Verborgenen die Schulpolitik lenken. In britischen Medien war von einer Operation „Trojanisches Pferd“ die Rede. Bildungsminister Michael Gove nahm sich des Problems an und schaltete die Schulaufsichtsbehörde Ofsted ein, die Schulen in Birmingham untersuchte. Am Ende wurde der Brief als Fälschung enttarnt, doch das Thema war längst nicht vom Tisch, sondern fand großen Anklang in der öffentlichen Debatte.

Die Angst vor Überfremdung lässt sich in der zuwanderungskritischen Gesellschaft nicht nur in den aktuellen Wahlumfragen und -ergebnissen erkennen. Erst im Mai hat die EU-feindliche Unabhängigkeitspartei Ukip die Europawahl auf der Insel gewonnen, nicht zuletzt deswegen, weil sie unaufhörlich gegen Einwanderer aus Osteuropa wetterte. Das Land, das sich einst für seine pluralistische Gesellschaft rühmte, steht nun ratlos und voller Anspannung da. Im September wollen die Schotten in einem Referendum über eine mögliche Unabhängigkeit abstimmen, zudem gewinnen die Rechtspopulisten ständig an Zuspruch. Nun rückt in Großbritannien auch die Immigration von Muslimen, vor allem aus Pakistan, Afrika und Nahost, wieder ins Blickfeld.

Vielerorts auf der Insel haben sich islamische Parallelgesellschaften herausgebildet, die zu ihrer neuen Heimat auf Abstand gehen. Die Ergebnisse von Untersuchungen aus dem Bildungsministerium geben Grund zur Sorge. 21 Schulen wurden in Birmingham, Englands zweitgrößter Stadt, unter die Lupe genommen. Davon erhielten lediglich drei eine gute Note. In mindestens sechs wurden spezielle Maßnahmen angeordnet.

Ofsted-Direktor Michael Wilshore wirft radikalen muslimischen Interessengruppen eine „organisierte Kampagne“ vor, die es auf bestimmte Schulen abgesehen habe. Jungen und Mädchen seien getrennt unterrichtet worden, über Lautsprecher sei zum regelmäßigen Beten aufgerufen worden, und es fänden Klassenreisen nach Mekka statt.

Manche Muslime, die sich dagegen wehrten, seien einem „Klima der Angst und Einschüchterung“ ausgesetzt, teilten die Inspektoren mit. Einige Erkenntnisse wären „äußerst besorgniserregend“. Hinweise auf Extremismus fanden sie aber keine, trotzdem ist die Behörde nun Rassismusvorwürfen ausgesetzt. Der Muslimrat von Großbritannien äußerte derweil „tiefe Besorgnis über den Ton und Tenor der Debatte“. Er habe „keinerlei Einwände gegen britische Werte“ und glaube an eine „tolerante, freie und gleichberechtigte Gesellschaft“.

Zuletzt warnten staatliche Stellen, dass Hunderte britische Dschihadisten in Kriegsgebiete in Syrien oder im Irak ziehen, um zu kämpfen oder sich ausbilden zu lassen. Erst in dieser Woche appellierte in den Medien ein afghanischer Vater an seinen Sohn, zurück nach Großbritannien zu kommen. Sowohl die Familie als auch die Behörden befürchten, dass er sich der Terrorgruppe Isis (Islamischer Staat im Irak und in Syrien) angeschlossen hat, um diese bei der Errichtung eines islamischen Staats zu unterstützen. Auf der Insel ist die Angst vor der Rückkehr der radikalisierten Dschihadisten jedenfalls groß. Zudem schockieren immer wieder Angriffe von fanatischen Islamisten das Königreich, wie beispielsweise der Mord an dem Soldaten Lee Rigby vor einem Jahr.

Ob die verordnete Debatte zur britischen Leitkultur Extremisten aufhalten kann? Cameron hat jedenfalls eine Liste nationaler Merkmale für den Unterricht vorgeschlagen. Darauf stehen unter anderem Freiheit, Toleranz, Respekt für den Rechtsstaat und für britische Institutionen sowie der Glaube an eine persönliche und soziale Verantwortung. Diese Attribute seien „so britisch wie die Union Jack, Fußball und Fish and Chips“, betont er. Englische Kinder sollen außerdem ab dem kommenden Jahr die knapp 800 Jahre alte Magna Charta lesen, die die Grundlage der Gesetze im Vereinigten Königreich ist. Cameron setzt damit ausgerechnet auf die Lektüre der Vereinbarung, bei deren Übersetzung er im vergangenen Jahr in einer US-Talkshow passen musste. Dafür erntete er tagelang Spott.

Auf der Insel herrscht nun Verwirrung, die genannten Werte seien keine bestimmten britischen Errungenschaften. So jedenfalls tönt es von vielen Seiten. In der Zeitung „Telegraph“ hieß es denn auch, dass sich die stärkere Vermittlung von Werten in Schulen äußerst schwer gestalten lasse. „Der Schlüssel, um wirklich britisch zu sein, ist, das Britische nicht zu ernst zu nehmen.“

Tomislav Maric unterrichtet als Lehrer an einer Gesamtschule im Londoner Westen. Wenn er sich in seiner Klasse umschaut, dann sieht er Schüler aus Marokko, Pakistan, Indien, Kenia und Mauritius. Maric selbst flüchtete im Jahr 1992 vor dem Balkankrieg aus Kroatien. „Alle meine Schüler sind Einwanderer oder Flüchtlinge der zweiten oder dritten Generation“, sagte er dem „Guardian“. „Doch sie sind britische Jugendliche, die die aktuell angesagte Musik hören, der Teenagermode folgen und dieselben Probleme haben wie alle anderen.“

Maric betont, wie wichtig es ist, die Multikultur in Freiheit zum Ausdruck zu bringen. Und er sieht seine Aufgabe als Lehrer darin, eine Umgebung zu schaffen, in der Vorurteile keine Chance haben. „Wir essen vielleicht zu Hause Gerichte mit Gewürzen aus unseren ursprünglichen Ländern oder schauen per Satellit das Fernsehprogramm aus unserer Heimat, aber wenn wir in einem Klassenzimmer sind, teilen wir eine Gemeinsamkeit, die es uns erlaubt, miteinander zu kommunizieren“, so Maric. Ob das nun Werte sind, die speziell dem Königreich zugeordnet werden? „Warum muss etwas als britisch gekennzeichnet werden?“, fragt er.

Bildungsminister Michael Gove kündigte nach dem Ofsted-Bericht an, alle Schulen müssten fortan „britische Werte lehren“. Zivil- und Strafrecht zählt er genauso dazu wie religiöse Toleranz und die Ablehnung jeder Geschlechtertrennung. Er muss sich jedoch viel Kritik gefallen lassen, vor allem nach den Vorfällen in Birmingham, wo Islamisten gezielt Bildungseinrichtungen unterwandert haben. Denn Gove legte nach seinem Amtsantritt im Jahr 2010 den Fokus darauf, ein staatsfernes Schulsystem aufzubauen. Jetzt heißt es von manchen Seiten, die Probleme wie jene in Birmingham seien hausgemacht. Der Minister hätte durch die Loslösung einzelner Schulen von der Aufsicht der lokalen Behörden solche Erscheinungen geradezu gefördert.