Die neue Finanzministerin, Rachel Reeves, übernimmt einen schwer angeschlagenen Finanzhaushalt. Foto: IMAGO/ZUMA Press Wire/IMAGO/Tayfun Salci

Mit Rachel Reeves ist erstmals eine Frau an der Spitze der britischen Schatzkanzlei. Die 45-Jährige gilt als ebenso brillant wie pragmatisch.

Was sie erwarten würde, ahnte sie schon, als sie am Wochenende die Schatzkanzlei übernahm und in No 11 Downing Street einzog. Aber das Ausmaß hat die neue britische Finanzministerin dann doch geschockt: Sie habe „die schlimmsten Verhältnisse seit dem Zweiten Weltkrieg“ vorgefunden, sagte Rachel Reeves. Schuld seien „14 Jahre Chaos und wirtschaftspolitische Verantwortungslosigkeit“, die Regierungszeit der Konservativen Partei. Reeves sucht der Nation auf diese Weise deutlich zu machen, wie schwierig ihre Ausgangslage ist und, dass über Nacht kein Wandel zu erwarten ist.

 

Die Lage ist zweifellos ernst: Generelle Stagnation, wachsende Staatsverschuldung, die höchsten Steuersätze seit Kriegsende und der katastrophale Zustand vieler öffentlicher Dienste in Großbritannien sind die Probleme, vor denen Reeves steht. Ihre Wahlversprechen setzen sie zusätzlich unter Druck. So will sie nur Geld aufnehmen, um in einigen Bereichen zu investieren und private Investitionen anzuziehen. Einkommens- und Mehrwertsteuer sollen in den nächsten fünf Jahren nicht erhöht werden. Reeves setzt auf neues Wirtschaftswachstum, dem sie politisch den Weg bereiten will. Dieses Wachstum soll die Lebensbedingungen verbessern und Reformen ermöglichen. Reeves Zuversicht wird freilich nicht überall geteilt.

Bloß nicht das Kapital verprellen

„Wenn die Labour-Leute nicht sehr viel Glück haben mit dem Wachstum, werden sie mehr mit Steuererhöhungen operieren müssen, als sie uns bisher gesagt haben“, sagt Carl Emmerson vom Institut für Finanzstudien (IFS). „Oder aber sie müssen neue Einschnitte vornehmen bei den öffentlichen Diensten, die es schon schwer getroffen hat in der Austerität der Jahre nach 2010“, der harten Sparpolitik unter David Cameron.

Rachel Reeves hat versprochen, es werde „unter einer Labour-Regierung keine Rückkehr zur Austerität geben“. Offen ist, ob sie Steuern, wie die Körperschaftssteuer oder die Steuer auf hohe Erbschaften anhebt, um dem öffentlichen Dienst beizuspringen. Eine generelle „Wohlstandssteuer“, die sie vor einigen Jahren erwog, passt inzwischen nicht mehr ins Konzept. Denn Reeves will privates Investment anziehen etwa für die in ihren Augen vordringliche „grüne Transformation“. Sie will nicht das große Kapital verprellen, wo es sich kooperationsbereit zeigt.

Labour müsse mehr darüber nachdenken, wie Reichtum geschaffen werden kann, nicht nur darüber, wie er zu verteilen ist, sagt Reeves. Die Ministerin, die nun mit Premier Starmer in der Regierung den Ton angibt, vertritt seit jeher eine pragmatische Linie. Sie hatte auch nie Berührungsängste mit der Privatwirtschaft oder den Großbanken.

Sie selbst, die nach Ansicht ihrer Professoren an der Uni Oxford und an der London School of Economics (LSE) durch „äußerste Intelligenz“ und „Kompetenz“ glänzte, arbeitete mehrere Jahre als Ökonomin bei der englischen Nationalbank, der Bank of England, und später bei der Privatbank HBOS. Während ihrer Zeit bei der Bank of England wurde sie an die britische Botschaft in Washington beordert, was ihr – erst 23-jährig – Zugang verschaffte zur US-Notenbank, zum Kongress und zum Weißen Haus.

Heraus aus der politischen Wüste

2010 zog Reeves als reformlustige Labour-Abgeordnete für West-Leeds ins Parlament – just zu Beginn der 14-jährigen Tory-Ära. Ihr Wille war es, in der Opposition ihre Bankerfahrung mit den sozialdemokratischen Ideen zu verbinden, die sie von daheim mitbrachte. Der Labour Party beigetreten war sie im Alter von 16 Jahren. Als sie in Westminster ankam, war sie es längst gewohnt, sich in einem Klima männlicher Aggressivität und harscher Konkurrenz zu behaupten. Dass sie Jahre später, mit 45, die erste Frau überhaupt an der Spitze der Schatzkanzlei werden sollte, sehen viele ihrer Mitstreiterinnen heute als das Ergebnis ihrer Beharrlichkeit.

Unter dem einstmaligen Oppositionschef Ed Miliband, dessen Wahl sie unterstützte, wurde sie zur Schatten-Arbeitsministerin. Als aber 2015 der Linkssozialist Jeremy Corbyn die Parteiführung übernahm, weigerte sie sich, dessen Schattenkabinett anzugehören. Bis zur Wahl Keir Starmers zum Parteichef, Anfang 2020, fand sie sich nach eigenen Worten „in der politischen Wüste“.

Zu Starmer, der Labour ins politische Mittelfeld zurückzuführen suchte, entwickelte sie ein gutes Verhältnis. 2021 übertrug er ihr die Zuständigkeit für die Finanzen. Im Wahlkampf spielte sie die zentrale Rolle an seiner Seite. Nahezu täglich beteuerten Reeves und Starmer, dass die „arbeitende Bevölkerung“ keine Steuererhöhungen von Labour zu befürchten hätte nach der Wahl.

Zuvor hatten sie Corbyns umfassende Verstaatlichungspläne über Bord geworfen. Wandel, hat die neue Schatzkanzlerin erklärt, sei nur zu erzielen durch „Stabilität“ und „auf der Basis eiserner Disziplin“. Geblieben sind die Absicht, das Eisenbahnsystem irgendwann wieder zu nationalisieren, eine aktivere Industriepolitik zu betreiben als die Tories und Beschäftigten mehr Rechte zu verschaffen.

Die Frage ist, ob das Geld reicht, die Löcher zu stopfen und, ob Reeves’ Wachstumsrechnung aufgeht. Ihre Bewunderer hoffen, dass sich die Ministerin eine Fähigkeit bewahrt hat, die sie schon als Kind auszeichnete – als sie nationale Schachmeisterin der Unter-14-Jährigen wurde: Dass sie ihren Gegnern immer ein paar Züge voraus ist.