Auch das noch: Am Montagabend mussten die ohnehin verunsicherten Briten eine Niederlage im Achtelfinalspiel der Fußball-EM gegen Island hinnehmen. Foto: Getty Images Europe

Das Aus bei der Fußball-EM verstärkt die Ernüchterung und Konfusion in Großbritannien. In die allgemeine Verwirrung mischt sich zugleich Empörung – vor allem bei jüngeren Briten.

London - Am vorigen Freitag waren die Briten noch vielfach bestürzt über die eigene Brexit-Entscheidung. Am Dienstag holte der Schock der gänzlich unerwarteten Vorabend-Niederlage gegen einen Fußballzwerg sportbegeisterte Engländer ein. Während in aller Früh Kehrkolonnen in der Londoner Innenstadt die zunächst in Siegeszuversicht und dann in nackter Verzweiflung geleerten Flaschen in den Straßen einsammelten, suchte man sich in ganz England bewusst zu machen, dass das Land nun auch auf diesem Feld nicht mehr „in Europa“ mitspielt.

Morgendliche Bilder aus Brüssel zeigten derweil einen Jean-Claude Juncker, der die britischen Vertreter im Europaparlament fragte, was sie denn eigentlich noch „hier“ wollten – sie hätten doch den Exit gewählt. Dies war wohl der Augenblick, in dem sich viele auf der Insel endgültig „draußen vor der Tür“ fühlten.

Nachdenken, ob man den Brexit noch abwenden kann

Die erzwungene Heimkehr des England-Teams stand in England für vieles andere auch. Für die Drei-Löwen-Fans kam noch die Demütigung dazu, beim Turnier in Frankreich ausgerechnet von der kleinsten aller Nationen geschlagen worden zu sein. Immerhin hatten im Laufe der Brexit-Kampagne Austrittsbefürworter Island oft ins Spiel gebracht. Sie hatten wieder und wieder argumentiert, dass Großbritannien „kein Winzling wie Island“ sei, sondern eine der mächtigsten Nationen der Erde.

Islands unvorhergesehener Triumph in Lille vermehrt die Ernüchterung und Konfusion, die große Teile des Vereinigten Königreichs befallen hat. Bei vielen Bürgern, zum Beispiel im örtlichen Lebensmittelladen, ist jetzt die bange Frage zu hören, ob man wohl sein Kreuz an die richtige Stelle gesetzt habe: „Wir hatten ja keine Ahnung, dass das solche Folgen haben würde.“ Ob die guten Leute, wenn sie eine zweite Chance hätten, anders stimmen würden? „Wahrscheinlich schon. Wir wissen ja nicht mal, wie es jetzt weitergeht.“

In die allgemeine Verwirrung mischt sich zugleich Empörung – vor allem bei jüngeren Briten. Drei Viertel der 18- bis 25-Jährigen, die zur Wahl gingen, haben ja für den Verbleib in der EU gestimmt. Viele dieser Wähler fühlen sich jetzt „von den Alten um eine europäische Zukunft betrogen“. Allerdings müssen die Erst- und Jungwähler einräumen, dass die wenigsten von ihnen wählen gingen. Ihre Chance, die Entscheidung zu beeinflussen, hat nur rund ein Drittel der 18- bis 25-Jährigen genutzt.

Die „Brexiteers“ sammeln ihre Wahlversprechen wieder ein

Keineswegs alle EU-Gegner sind ins Lager der Reumütigen übergegangen. Viele halten auch jetzt noch die Warnungen vor den Folgen des Brexit für „reine Angstmacherei“. Aber bei den 48 Prozent der Briten, die in der EU bleiben wollten, ist die letzten Tage über immer mehr Zorn aufgekommen. Genährt wird dieser Zorn vom Wissen, dass die Brexit-Seite während der Kampagne Dinge versprochen hat, von denen sie nun nichts mehr wissen will. Keineswegs so viel an EU-Beiträgen wie gelobt kann nun beispielsweise gespart und „ins Nationale Gesundheitswesen investiert“ werden. Das räumen inzwischen auch, vorsichtig geworden, die führenden Brexiteers ein. Und auch Zuwanderung aus der EU kann nicht einfach gestoppt werden, wenn man weiter im Binnenmarkt bleiben möchte. Das war das wichtigste Brexit-Versprechen. Aber auch das war „so nicht gemeint“.

In ihrer Empörung über diesen „Betrug“ und um ihre Verbundenheit mit dem Rest Europas zu bekunden beginnen immer mehr Wähler nach Umkehr zu rufen. Der Ruf nach Neuwahlen, sogar nach einem zweiten Referendum, wird lauter von Tag zu Tag. Offen wird die Frage diskutiert, ob das Westminster-Parlament, der wahre Souverän auf der Insel, einen Brexit stoppen könnte und sollte.

Die gegen den Brexit-Entscheid rebellieren zieht es jetzt auch auf die Straße. Vor allem in London, wo eine klare Mehrheit für weitere EU-Zugehörigkeit gestimmt hat, rumort es. Für Dienstagabend hatten Zehntausende ihre Teilnahme an einer „EU-Solidaritätskundgebung“ auf dem Trafalgar Square angekündigt. Die Demonstration wurde erst in letzter Minute abgeblasen – „aus Sicherheitsgründen“.