Die Kampagne der Brexit-Befürworter war sehr kreativ. Sogar auf der Themse warben sie für ihr Ziel. Foto: dpa

Die Briten haben sich im Juni für den Austritt aus der EU entschieden. Aber der vorausgesagte Absturz der Wirtschaft ist ausgeblieben. Die Brexit-Befürworter triumphieren, doch könnte ihnen der Jubel bald im Halse stecken bleiben.

London - Großbritannien ist nicht im Chaos versunken, die von vielen vorhergesagte Apokalypse ist ausgeblieben. Nach dem Brexit-Votum der Briten Ende Juni machten sich nicht nur Politiker, sondern auch Banken und Unternehmen auf das Schlimmste gefasst. „Mayday! Mayday!“ lautete die alarmierende Überschrift über einem Analysepapier von Credit Suisse. Hunderttausende Jobs stünden unmittelbar auf der Kippe, lautete die düstere Vorhersage. Doch die Realität hat sich nicht an die meisten Prophezeiungen der Analysten und Experten gehalten. Die politische und wirtschaftliche Entwicklung hat einen unerwarteten Verlauf genommen.

Kurze Ratlosigkeit nach dem Brexit

Zwar ist das Pfund abgesackt und die Zinsen sind gesunken, doch sonst sind die Brexit-Folgen erstaunlich gering. Selbst die Finanzmärkte haben sich nach einer Orientierungsphase wieder erholt. Fundament dieser stabilen Entwicklung ist unter anderem die gesteigerten Nachfrage der Konsumenten. So haben die britischen Einzelhändler im August kaum Umsatzeinbußen hinnehmen müssen. Die Einnahmen sanken zum Vormonat um 0,2 Prozent, wie das Statistikamt ONS am Donnerstag mitteilte. Im Juli, dem ersten Monat nach der Anti-EU-Abstimmung, hatte es allerdings noch ein Plus von 1,9 Prozent gegeben. Auch die Industrieproduktion blieb stabil. Die Aktivität der britischen Fabriken lag im August auf dem höchsten Stand seit zehn Monaten. Und zur Überraschung der Skeptiker verharren die Investitionen auf dem gleichen Niveau wie vor dem Brexit-Referendum. Das ist erstaunlich, sind doch die Handelsbeziehungen Großbritanniens zum Rest der EU alles andere als geklärt. Zudem zeigte sich der britische Arbeitsmarkt bislang wenig beeindruckt vom Brexit-Votum. Die Zahl der Anträge auf Arbeitslosenunterstützung kletterte im August lediglich um 2400 auf 771 000, so das Statistikamt ONS. Angesichts dieser Daten jubilieren die Brexit-Befürworter. „Ich sehe keinen Grund, weshalb der Brexit in Großbritannien eine Rezession auslösen sollte“, sagte John Redwood, einer der prominenten Europa-Skeptiker der konservativen Partei. Die „Brexiter“ sollten allerdings ihre Euphorie bremsen, warnen Fachleute, denn die kurzfristige Entwicklung sage nichts über die langfristigen Auswirkungen des Austritts.

Die langfristigen Folgen des Brexit

Eine Umfrage der Industrie- und Handelskammern bei rund 5600 deutschen Unternehmen stützt diese Aussage. Die unmittelbaren Auswirkungen des Brexit auf Investitionen in Großbritannien sind laut der Befragung überschaubar. Kaum ein Unternehmen plant keine vorschnellen Anpassungen. „Die Auswirkungen werden vielmehr langfristig von den Ergebnissen der Austrittsverhandlungen bestimmt“, heißt es. in der Umfrage Das bedeutet, dass die Firmen in den kommenden Jahren durchaus ihre Investitionen im Königreich zurückfahren und dort teils auch weniger Mitarbeiter beschäftigen wollen.

Der Grund, weshalb Großbritannien nicht unmittelbar nach der Brexit-Entscheidung abgestürzt ist, liegt unter anderem an der robusten ökonomischen Entwicklung des Landes während der vergangenen Jahre. Die Wirtschaft in Großbritannien wuchs nach Angaben der niederländischen ING Bank im Jahr 2015 um 2,3 Prozent – im Vergleich zu bescheidenen 1,6 Prozent in der Euro-Zone. Die niederen Zinsen und ebenso moderate Inflation befeuerten den Immobilienmarkt und den Privatkonsum. Zudem waren viele Investitionsentscheidungen lange vor dem Brexit-Votum gefällt worden. Positiv auf die Entwicklung direkt nach dem Referendum wirkte sich auch aus, dass das Land nicht im – von vielen vorausgesagten – politischen Chaos versank. Die Konservativen einigten sich überraschend schnell auf Theresa May als Premierministerin, die überall ein hohes Ansehen genießt und in Ruhe ihren neuen Job in Angriff nahm. Entscheidend abgefedert wurden die Folgen des Brexit allerdings auch durch einige radikale Maßnahmen der Bank of England. Um die Wirtschaft anzukurbeln senkten die Notenbanker den Leitzins und kauften im großen Stil Anleihen des britischen Staates und von privaten Unternehmen.

Die Rolle der Bank of England

Experten vermuten, dass die Londoner Währungshüter bei einer weiteren Eintrübung der Konjunktur den Schlüsselsatz zur Versorgung der Banken mit Geld auf oder nahe an die Nulllinie setzen werden. Mit 0,25 Prozent liegt das Leitzinsniveau seit der jüngsten Senkung Anfang August so tief wie nie zuvor seit Gründung der Bank of England vor mehr als 320 Jahren.

Analysten warnen, sich angesichts der erstaunlich ruhigen Lage in Sicherheit zu wiegen. Die Erholungssignale könnten sich nach Einschätzung der Rating-Agentur Standard & Poor’s als Trugbild erweisen: „Sie dürften nichts an den trüben Langfristperspektiven ändern“, prophezeite S&P-Ökonomin Sophie Tahiri. Die Ernüchterung könnte schon im kommenden Jahr ins Hause stehe. Die Notenbank rechnet für 2017 nur noch mit einem Wachstum von 0,8 Prozent statt bislang 2,3 Prozent.

Kritik an Theresa May

Wurde die Politik der ruhigen Hand von Premierministerin Theresa May anfangs gelobt, sehen viele darin inzwischen eine wachsende Gefahr. May will erst Anfang 2017 die offiziellen Austrittsgespräche beginnen. Vorher muss sich die Regierung erst sortieren, die internen Kräfteverhältnisse abstecken und vor allem die aufmüpfigen Schotten beruhigen, die unbedingt in der EU bleiben wollen. Experten warnen schon vor einer Hängepartie mit ungewissem Ausgang. Für Unternehmer und Banker beiderseits des Ärmelkanals wäre diese Unsicherheit reines Gift.