Fabian Stromberger als Faust und Anna von Haebler als Helena Foto: dpa

Der Texaner Robert Wilson bringt Goethes berühmtes Drama als eine auf die Höhepunkte verkürzte Fassung für lesefaule Oberschüler auf die Bühne. Herbert Grönemeyer komponierte einen wilden Genretanz zum viereinhalbstündigen Abend.

Berlin - Eine Zeile klebt sich unweigerlich ins Hirn, während man am frühen Abend über die Friedrichstraße zum Berliner Ensemble spaziert: „Meine Faust will unbedingt in sein Gesicht – und darf nicht“, so singt es Herbert Grönemeyer in seinem Lied „Was soll das“.

Die Faust, der „Faust“ – eine alberne Assoziation und doch passend, denn mitten ins Gesicht, knallig in your face, das ist genau der Effekt, den die „Faust“-Inszenierung des Texaners Robert Wilson erzielt, für die Herbert Grönemeyer die Musik komponiert hat – eine viereinhalbstündige Coverversion des größten deutschen Klassikschlagers.

Schon einmal haben sich die beiden für eine Inszenierung von Büchners „Leonce und Lena“ zusammengetan, nun haben sich Wilson und Grönemeyer in einem Double-Feature am Berliner Ensemble gleich beider Teile von Goethes „Faust“ angenommen. Das Stück läuft bereits, als das Publikum in den Saal gelassen wird, als hektischer Hühnerhaufen scheucht sich das Ensemble über die Bühne, mittendrin das unvermeidliche Pudelkostüm.

„Faust I“ flutscht zügig durch

Gleich fünf Faust-Figuren stellt Wilson auf die Bühne. Nur nicht kleckern – warum nicht. Als sie zu Beginn auf einem Gerüst herumturnen und dabei ihre sinnlosen Studien beklagen, erinnert das mit seinem Aufbau an das Layout des frühen Computerspiels „Donkey Kong“. Inklusive der Leitern, mit denen dort von Gorillahand geschleuderte Fässer, hier das weißgesichtig gekalkte Faust-Quintett von Gerüststockwerk zu -stockwerk gelangt.

Zweidimensional wie Donkey Kong mit seinen begrenzten Grafikmöglichkeiten ist auch das Bühnengeschehen, wenn Figuren wie Schattenrisse im Hintergrund von links nach rechts hampeln. Wie aufgezogen strampeln sie und kommen doch kaum von der Stelle.

Zumindest der erste Teil des Abends, „Faust I“, flutscht auf dieser Fläche denn auch zügig durch, als habe man eine auf die Highlights verkürzte Fassung für lesefaule Oberschüler vor sich. Vom Pakt bis zur Gretchenbebuhlung sind es nur ein paar Lieder und ein paar Szenen – oder, besser gesagt, begehbare Bilder, in die Wilson das Goethe’sche Geschehen portioniert. Eine Nummernrevue, teils gar mit blinkenden Lichterketten.

Faust steht in fünffacher Ausführung auf der Bühne

Natürlich geht damit auch eine starke Sloganisierung des an gern zitierten Stellen ohnehin nicht armen Textes einher. Häufige Wiederholungen von Zeilen und ganzen Passagen steigern den Effekt noch, weil Faust gleichzeitig mal in fünf-, mal in vierfacher Ausführung auf der Bühne steht und Gretchen dazu dreifach auftritt – die Gretchens dieses Mal in einer abwaschbaren Variante, in laminierten Kegelkleidern, ewig kicherig in ihrer Spieluhrseligkeit.

So plakativ diese Bilder, so sehr bleiben Beziehungen, Entwicklungen, das Unsichtbare an den Charakteren eben an der Oberfläche. Es sind abstrakte, designte Verhältnisse, die hier gezeigt werden.

Gefühle und Leidenschaften darf in elaborierter Fassung nur einer zeigen: Mit Gummilederhose und langen roten Haaren ist Mephisto (Christopher Nell) ein überaus menschlicher Teufel – mit Jodeldiplom und dissonanten Soundeffekten, die er wie seinerzeit Harald Schmidt mit kurzen Handbewegungen abrufen kann.

Grönemeyers Musik: ein wilder Genretanz

Im Kontrast zum lebhaften Teufel, komplett mit kleinen Stirnhörnchen, wirken die Bühnenräume mit ihren strikten Geh-Linien und geometrischen Figurenformationen oft eher wie ein am Computer erzeugtes 3-D-Rendering einer Spielstätte. Eine interessante Kühle im wilden Treiben.

Und Grönemeyers Musik? Ist ein wilder Genretanz, für den das achtköpfige Orchester alle Schubladen in der Repertoirekommode aufreißt und umstülpt: Ragtime und Zwei-Seelen-wohnen-ach-Rap, Gefühlo-Deutschrock und Cabaret-Schwüle, Stepptanz zum Klapper-Banjo, dann wieder dunkles Chansonnieren, zickiger Retro-Elektro, ein Flamenco-Song mit Kastagnettenbegleitung, eine Streicher-Powerballade, Audienzzimmer-Cembalo-Pop.

Der vom Eise befreite Frühlingsspaziergang wird zum frohen Schmetterchor, der sich – mit ein paar Ethno-Trommeln angefüttert – auch als Hymne für die nächste Fußballweltmeisterschaft ausgehen könnte.

Bei „Faust II“ schaltet die Nummernrevue noch einen Gang höher

Nach der Pause, bei „Faust II“, schaltet diese Nummernrevue noch einen Gang höher. Natürlich liegt das auch an der Vorlage, deren assoziative Rauschbilder der Kulturgeschichte durch die Wilson’sche Brille betrachtet freilich noch wilder wirkt.

Helena und Paris, ein Bacon’scher Papst, der sein Schnalzgenital wackeln lässt, schmatzende Nosferatu-Reminiszenzen und Griechenland-Rap, Napoleon als französische Bulldogge, Ikarus mit Fallschirm und ein grusliger rollender Roboter-Homunculus, Sphinx-Jazz und Szenen, die an „Väter der Klamotte“ erinnern. Das sind viele Bilder, sehr viele Bilder, die im letzten Viertel dieses langen Theaterabends im Kopf übereinanderstürzen.

Da sehnt man sich zwischendurch dann doch nach der mentalen Entsprechung eines Stückchens trockenen Brots.

Grönemeyer selbst singt auf der Bühne

Am Ende sitzt der übrig gebliebene Faust mit dem frisch erglatzten Mephisto auf einem Bänkchen, die Arme verschränkt wie Dideldei und Dideldum in „Alice im Wunderland“. Vertraulich reicht der Teufel dem Doktor am Ende ein Hörnchen – kein Croissant, ein echtes, von der Stirn gepflückt.

Frenetisch ist der Applaus, mit dem das Publikum sich am Ende auch eine Art Zugabe herbeiklatscht. Herbert Grönemeyer selbst singt auf der Bühne noch einmal das Lied von Lynceus, dem Türmer, aus dem zweiten „Faust“-Teil, ein friedlich-versöhnliches Resümee: „Ihr glücklichen Augen / Was je ihr gesehn / Es sei, wie es wolle / Es war doch so schön!“

Info: Wilson und Grönemeyer

Info: Wilson und Grönemeyer

Robert Wilson und Herbert Grönemeyer haben bereits 2003 bei der Produktion „Leonce und Lena“ von Büchner zusammengearbeitet, bevor sie jetzt – wiederum an Claus Peymanns Berliner Ensemble – Goethes „Faust“ auf die Bühne brachten.

Weitere Termine: 17.–20., 22. Mai, 14.–16. Juni. Kartentelefon: 030 / 28 40 81 55, E-Mail: theaterkasse@berliner-ensemble.de