Setzt das Thema Reparationen auf die Tagesordnung: Alexis Tsipras Foto:  

Athen will offenbar alle Mittel einsetzen, um seinen Verbleib in der Euro-Zone und die weitere Finanzierung des pleitebedrohten Landes zu sichern. Jetzt kommen – wieder einmal – Reparationsforderungen ins Spiel.

Stuttgart/Athen - Insider in Athen wussten es schon seit Wochen: Die neue Regierung will alles riskieren, um die weitere Finanzierung durch die europäischen Geldgeber zu sichern. Wieder einmal geht es um Forderungen nach Reparationen aus dem Zweiten Weltkrieg. Ein Parlamentsausschuss soll prüfen, wie hoch diese Reparationen sein sollen. Eine Idee vom Betrag hat man schon: Nach griechischen Berechnungen geht es um bis zu 332 Milliarden Euro. Damit wäre Griechenland seinen Schuldenberg von 320 Milliarden Euro praktisch auf einen Schlag los.

Die Bundesregierung sieht die Entschädigungsfrage allerdings als erledigt an. Der SPD-Vorsitzende und Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel bezog Anfang Februar klar Position: „Spätestens mit den Zwei-plus-vier-Verhandlungen sind alle diese Themen beendet worden.“ Seit dem 12. September 1990 – damals wurde der Zwei-plus-vier-Vertrag unterzeichnet – sind also nach Gabriels Auffassung die Athener Ansprüche erloschen.

So sieht es auch der Griechenlandexperte der renommierten Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), Heribert Dieter. Reparationsforderungen seien unberechtigt, sie würden viel zu spät kommen und seien im Übrigen ein Manöver, mit dem die griechische Regierung von ihren aktuellen Schwierigkeiten ablenken wolle, sagte Dieter unserer Zeitung.

Zu einer anderen Einschätzung kommt der „Spiegel“: Der Fall sei juristisch betrachtet ungeklärt, denn die Griechen hätten nie den Internationalen Gerichtshof angerufen. Und der deutsch-griechische Historiker Hagen Fleischer beklagt: „Mein erstes Vaterland ist historisch, finanziell und moralisch nicht im Reinen mit meinem zweiten Vaterland.“

Nun erreicht der Streit einen neuen Höhepunkt und birgt die Gefahr, einen Keil zwischen Athen und Berlin zu treiben. Der griechische Justizminister Nikos Paraskevopoulos drohte damit, deutsche Liegenschaften in Griechenland zu pfänden. Es geht um das Goethe-Institut von Athen, das traditionsreiche Deutsche Archäologische Institut sowie die deutschen Schulen in Athen und Thessaloniki. Bisher blieben diese Einrichtungen weitestgehend unbehelligt.

Stuttgart verfolgen die Diskussion mit großem Interesse

Die Diskussion über Reparationen verfolgt auch Evangelos Soferis, gebürtiger Stuttgarter griechischer Herkunft, mit größtem Interesse. Der 40-jährige Immobilienmakler verbindet sie vor allem mit der Chance, Vergessenes in Erinnerung zu rufen. Es geht ihm darum, die griechische Leidenszeit während der Nazi-Besatzungszeit ins Bewusstsein zu rücken. „Bei meinen deutschen Freunden stelle ich fest, dass sie in den Punkten Schicksal der Griechen und Drittes Reich blockieren.“ Er vermisst echtes Interesse an seinem Volk – gleichwohl räumt er ein, dass die nach Deutschland gezogenen Griechen über das Thema jahrelang den Mantel des Schweigens gebreitet hätten – sie wollten ihren Arbeitsplatz nicht gefährden.

Im Gespräch mit unserer Zeitung bringt er die tragische Geschichte seiner eigenen Familie ein. „Ich hatte einen Großvater, der hieß Georgios Tsopanidis. Im Alter von 38 Jahren wurde er von den Nazis umgebracht.“ Und Soferis zeigt das Foto einer Gedenktafel, auf der mehrere Namen eingraviert sind – darunter der des Opas. Gewütet hatten die deutschen Besatzer im Dorf Mesovouno Kosani mit gerade 1100 Einwohnern. Diese hätten sich mit Waffen gegen die Eindringlinge erhoben, und zur Strafe sei das Dorf zweimal niedergebrannt worden – am 23. Oktober 1941 und am 24. April 1944. Hunderte von Menschen, hauptsächlich Männer, seien damals hingerichtet und viele andere in Konzentrationslager deportiert worden.

An der Berechtigung von Reparationsforderungen hat Soferis seine Zweifel, „aber das Verständnis für die Tragödien, die wir Griechen erlebt haben, müsste auf deutscher Seite viel größer sein.“

Massenmorde und Zerstörungen gab es auch anderswo in Griechenland. Mindestens 100 000 Menschen – nach anderen Schätzungen bis zu 600 000 – starben in der Hungersnot 1941/42, eine Folge der Ausplünderung des Landes durch die Wehrmacht. Mehr als 50 000 Juden aus Griechenland wurden in Auschwitz vergast, Zehntausende Zivilisten hingerichtet. Zudem musste Athen der Wehrmacht Kredite zur Verfügung stellen.

Tsipras weiß, dass er damit im Volk punkten kann

Vor diesem Hintergrund fühlt sich Athen berechtigt, das Thema Reparationen auf die Tagesordnung zu setzen. Regierungschef Alexis Tsipras griff es am Dienstag in seiner Rede vor dem Parlament wieder auf. Die deutschen Regierungen sperrten sich mit „juristischen Tricks“, um nicht mit Athen darüber zu reden, sagte er. Tsipras weiß, dass er damit im Volk punkten kann.

Schon unmittelbar nach seinem Amtsantritt Ende Januar legte er in einem Athener Arbeiterviertel drei rote Rosen zum Gedenken an griechische Widerstandskämpfer nieder, die dort während der Besatzungszeit hingerichtet wurden. Zudem setzte Tsipras alles daran, mit geschichtlichen Bezügen den Euro-Partnern einen Schuldenschnitt für sein Land schmackhaft zu machen: Für Deutschland habe es 1953 einen Schuldenschnitt gegeben, der für Aufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg sorgte. Warum also soll es nicht einen solchen Schnitt für Griechenland 2015 geben – nach den Fehlern in Zeiten des süßen Lebens der vergangenen Jahrzehnte. „Alles ganz einfach“, kommentierte ein griechischer Journalist im Parlament.

Die Opposition warnte Tsipras. Es sei nicht richtig, die „gerechte Forderung“ nach Reparationen mit dem anderen Thema der aktuellen Finanzprobleme Griechenlands zu verbinden, sagte der Chef der Sozialisten im Parlament, Evangelos Venizelos. „Das wird uns in die Sackgasse führen.“