Die 92-jährige Walentina Koroljowa erinnert sich an die Belagerung Leningrads – und an die Menschen, die sie verloren hat. Foto: Avant/Lawrentjewa

Der auf einer wahren Lebensgeschichte beruhende Comic „Surwilo“ erzählt von Stalins Terror, dem Zweiten Weltkrieg und der Belagerung Leningrads. Er könnte kaum aktueller sein.

Was lernen Völker eigentlich aus ihrer Geschichte? Was prägt sich dem Langzeitgedächtnis ein, welche Erfahrungen bestimmen das Denken und Fühlen? Diese Fragen drängen sich auf, wenn man die Bilder von der wahllosen Zerstörung, von der Belagerung, von der Aushungerung Mariupols durch russische Truppen sieht. Denn dieses Kriegsverbrechen entspricht gruselig der Belagerung Leningrads durch die deutsche Wehrmacht. Und die war doch eigentlich prägend für Russlands Bild von den Schrecken des Krieges, für die Erinnerung ans Leid der Zivilbevölkerung und an die Brutalität der Aggressoren, auch für eine Mythologie von Widerstandswillen bis zum Letzten. Von dieser Belagerung erzählt auch Olga Lawrentjewas Graphic Novel „Surwilo“.

Dies ist aber keinesfalls ein Kriegscomic, der wuchtiges, makaber faszinierendes Militärgerät ins Blick rückt, der die großen Schauwerte von Schlacht und Gemetzel abruft, auch keiner, der sich über die Frontlinie hin und her bewegt. „Surwilo“ bleibt in Leningrad, erzählt aus der Perspektive einer einzelnen Frau. Diese Walja – das ist die Koseform von Walentina – gehört auch nicht direkt zur kämpfenden Truppe. Sie leistet Dienst als Hilfskrankenschwester in einem Gefängnis.

Das Weggefressenwerden ihrer Patienten durch Seuchen, das Verwandeln des eigenen Denkens in eine Rund-um-die-Uhr-Hungerqual, das Zusammenklappen der anderen Halbskelette in einer Ruinenwelt sind ihr Kriegserleben – und der nächtliche Wachdienst bei Fliegerangriffen. Walja steht dann ungeschützt im Gefängnishof und muss an den Himmel schauen. Sie soll vermerken, wo auf dem Gelände Bomben und eventuell Blindgänger niedergehen.

Walja ist exponierter, sie ist bedenkenloser zur entbehrlichen Ressource erklärt worden als alle Kolleginnen, weil ihre Personalakte einen fatalen Makel trägt. Ihr Vater, tatkräftiger Kommunist, ist 1937 unter der falschen Anschuldigung, Spion und Saboteur zu sein, in einer von Stalins vielen Säuberungswellen verhaftet worden und seitdem nachrichtenlos im Gulag verschwunden. Seine Familie hat darum Pariastatus.

„Surwilo“ ist ein biografischer Comic. Er bewahrt die Lebensgeschichte der Großmutter der Zeichnerin und Autorin Olga Lawrentjewa auf. Ihren Enkeln hat die Frau oft von früher erzählt, und ihre Traumatisierungen hätte sie auch gar nicht verstecken können. Hat sie jemanden nicht im Blick, denkt sie sofort das Schlimmste. Sie gerät in Panik und muss weinen, wenn jemand abends länger wegbleibt oder die Enkel beim Pilzesuchen tiefer in den Wald gehen. Nur hat sich die kleine, gerne zuhörende Olga noch keine Gedanken darüber gemacht, dass dieser Fluss der Erzählungen einmal ins Stocken geraten, dass alle diese Erfahrungen weg sein könnten.

Als Olga Lawrentjewa sich sehr viel später, 2017, daran macht, das Leben ihrer Großmutter zu dokumentieren, da kann sich diese nun 92-Jährige an vieles, was sie der jüngeren Olga erzählt hatte, nicht mehr im Detail und manchmal gar nicht mehr erinnern. „Surwilo“ erzählt nicht nur vom Krieg, sondern auch vom harten Leben davor und danach in einem Reich der Gängelei, Korruption und Paranoia. Aber es wird eben immer auch miterzählt, dass nicht mehr alles fassbar ist, dass Leben und Erfahrungen, Leiden und Triumphe, die Schuld der Schuldigen und die Rechte der Betrogenen sich auflösen in Tod und Vergessen.

Das wird nur ab und an in Worte gefasst, das ist aber immer in den Bildern selbst enthalten. Lawrentjewas Schwarz-Weiß-Zeichnungen fassen zwar manchmal einzelne Objekte und Personen im Zentrum klar und scharf – aber immer ist da eine Düsternis am Rande, eine Auflösung ins Undurchblickbare. Manchmal übernimmt die Düsternis mit der schroffen Kraft des Kohlestifts die Bilder fast ganz. Immer wieder löst sich Gezeichnetes in Unschärfe auf, verfließt das Feste, wird Erinnerung zum Spiegelbild auf einer unruhigen Wasseroberfläche.

Dieser Gestus der Bescheidenheit – keine definitive Darstellung einer Epoche zu sein, sondern bloß die Trümmerrettung einer persönlichen Geschichte in vollem Bewusstsein ihrer Lücken – macht „Surwilo“ ergreifend und überzeugend. Die 92-jährige Walentina will nicht die Welt vor alten und neuen Stalins und Hitlers warnen. Sie berichtet nur, wie es ihr ergangen ist, unter Stalins Regime und im von Hitlers Truppen ausgehungerten Leningrad. Und dann hat man für einen Moment die wehmütige Illusion, wenn man nur jedem russischen Bürger ein Exemplar dieses Comics in die Hand drücken könnte, sei der Krieg nicht mehr führbar und Putin ohne Rückhalt.

Olga Lawrentjewa: Surwilo. Graphic Novel. Aus dem Russischen von Ruth Altenhofer. Avant-Verlag, Berlin. 310 Seiten, 28 Euro.