Zu viert kann man den Killesbergturm leicht zum Schwanken bringen. Foto: Peter Petsch

Seit er für das Publikum gesperrt ist, richten sich alle Augen auf den Stuttgarter Fernsehturm. Doch es gibt noch viele andere Bauwerke in der Stadt, die hoch hinausstreben. Wir stellen sie in unserer Sommerserie vor. Heute: der Killesbergturm.

Stuttgart - Fester Boden unter den Füßen fühlt sich anders an. Innenohr und Kleinhirn streiken, auf diesem Turm kommt der menschliche Gleichgewichtssinn aus dem Tritt. Vivian (12) findet das spannend. Sie legt sich auf den Rücken, schließt die Augen. Ihre Mundwinkel formen ein verzücktes Lächeln. „Als ob man auf einer Luftmatratze liegt und die Wellen einen treiben“, sagt sie gerade so laut, als wollte sie das imaginäre Spiel der Wogen auf keinen Fall stören.

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Türme in Stuttgart

Doch Vivian hat sich nicht dem Element Wasser hingegeben – nicht Meeresrauschen, Großstadtgrummeln. Die Schülerin liegt auf einer von der Sommersonne gewärmten Stahlplatte ungefähr 31 Meter über dem Erdboden. Für ihr Wohlgefühl sorgen Marie, Lisa und Tatjana (alle drei 11). Sie haben sich am Rand der obersten Ebene des Killesbergturms postiert und das Geländer fest im Griff. Sie rütteln und schütteln den Turm, dass ihnen manche Mutter halb ängstlich, halb streng ein „Lasst das!“ entgegenzischen würde. Die 42 Meter hohe Seilkonstruktion reagiert – mit Verzögerung zwar, aber sichtbar. Wer genau hinsieht, erkennt, dass der Killesbergturm leicht wackelt, „Cool“, ruft Vivian, in Gedanken immer noch auf dem Ozean.

Wie die Kinder die Bauweise des Turms intuitiv erforschen – Jörg Schlaich (78) hätte, wäre er hier, seine Freude daran. Der Stuttgarter Ingenieur hat sich das feingliedrige Seilgeflecht vor über 20 Jahren ausgedacht – als eine der Attraktionen für die Internationale Gartenausstellung (Iga), die 1993 in Stuttgart stattfinden sollte. „Eigentlich war der Turm die Idee des Landschaftsarchitekten Hans Luz, der damals eine Wettbewerbsgruppe angeführt hatte“, sagt Schlaich. Luz hatte zusammen mit Schlaich und anderen das sogenannte Grüne U konzipiert, jene Verknüpfung mehrerer Parkanlagen vom Schlossgarten über den Rosensteinpark, den Leibfried’schen Garten, das Wartberggelände, den Höhenpark Killesberg, den Kräherwald bis zum Schwarz- und Rotwildpark zu einem durchgängigen, u-förmigem Grünzug. Der Turm sollte dabei den sprichwörtlichen Höhepunkt bilden. Für ihn sei das Grüne U eigentlich erst fertig, wenn dieser Turm gebaut sei, hat Luz einmal gesagt. Der geschwungene Aussichtskörper würde sich genial in die Natur einfügen, war sich der Landschaftsarchitekt sicher.

Nach langem Hin und Her wurde der Turm im Jahr 2000 gebaut

Man ahnt: Im Luz’schen Sinn wurde das Grüne U zur Iga nicht fertig. Man hatte viel diskutiert damals, viel gerechnet. Schließlich entschied der Stuttgarter Gemeinderat 1992, dass der Turm erst mal nicht gebaut wird. Die seinerzeit zwei Millionen Mark Baukosten waren den Stadträten zu viel, weil anderes den Iga-Etat gesprengt hatte. Der damalige SPD-Gemeinderat Rainer Kußmaul konstatierte wenig weitsichtig: „Der Turm passt wunderbar in die Iga-Landschaft, aber von Tag zu Tag weniger in die politische Landschaft.“ Die CDU verstieg sich zu der Idee, am selben Platz einen Kran aufzustellen, um den Iga-Besuchern wenigstens ein bisschen Aussicht zu gönnen. „Wir waren damals sauer und enttäuscht über ein solches Theater um zwei Millionen Mark“, erinnert sich Schlaich.

Erst nach jahrelangem Hin und Her und einer zähen Suche nach Geldgebern wurde der Turm in den Jahren 2000 und 2001 gebaut. Möglich machte dies letztlich eine großangelegte Spendenaktion, initiiert vom Verschönerungsverein Stuttgart, der heute als Eigentümer für die Pflege des Turms verantwortlich ist. Der damalige Vereinsvorsitzende Fritz Oechßler hatte Patenschaften für die 348 Treppenstufen angeregt. „Die ersten acht des Aufgangs gehören mir“, sagt Schlaich. Längst sind alle Stufen verkauft.

Die Treppen winden sich in Form zweier gegenläufiger Spiralen entlang dem äußeren Rand des Turms. Der zentrale Mast nimmt alle Lasten auf, er lagert nur auf einer Kugel. Stabilität erhält der Turm vereinfacht gesagt dadurch, dass Treppen, Plattformen und ein dünner Druckring unterhalb der Spitze mit einem Drahtseilnetz verspannt sind. So bewegt sich die Konstruktion nur ein kleines bisschen, genauer: gerade so viel, wie sie soll.

Das kleine Wahrzeichen am Killesberg

„Der Plan war, dass der Turm optisch den Schwung des Bergs aufnimmt“, sagt Schlaich. Die zwei gewundenen Treppen, eine für den Weg nach oben, die andere für den Weg nach unten, haben sich die Planer dabei nicht zum Selbstzweck ausgedacht. „So müssen sich keine verschwitzen Leiber aneinander vorbeizwängen“, erklärt Schlaich. Und jene, denen beim Aufstieg nicht ganz wohl sei, könnten auf einer der unteren drei Ebenen verweilen.

Der Turm, weithin sichtbar, hat sich vis-à-vis zum Fernsehturm auf der anderen Seite des Stuttgarter Kessels längst zu einem zweiten kleinen Wahrzeichen gemausert. Wird er ordentlich gewartet, „steht er ewig“, ist Ingenieur Schlaich überzeugt.

So ewig, wie manche Liebe halten soll, die sich Paare einander auf dem Turm schwören. Der Brauch, am Geländer Liebesschlösser einzuhängen, hat auch den Killesbergturm erfasst. Sätze wie „Zwei Hasen für immer“ oder „In Liebe, Deine Verena“ liest man etwa auf eingehakten Vorhängeschlössern.

Jörg Schlaich lebt inzwischen in Berlin. Gerne erinnert er sich an Tage, an denen er im benachbarten Höhencafé saß und die Leute dabei beobachtete, „wie sie rausfanden, ob der Turm wirklich wackelt“. Ja, er schwankt, und anfangs ist Tatjana mulmig zumute gewesen, als es hieß, sie solle dort hinauf. Jetzt quietscht sie mit den Freundinnen um die Wette. Vivian liegt immer noch auf der obersten Plattform. Sie hat in Gedanken die Luftmatratze, nicht aber das Element verlassen: „Man fühlt sich hier oben wie in einem Wasserbett.“

Der Killesbergturm ist je nach Witterung von 7 Uhr bis zur Abenddämmerung geöffnet. Der Eintritt kostet 50 Cent für Einzelpersonen und einen Euro für Familien. Die Aufstiegsgebühr, von der die Instandhaltung des Turms bezahlt wird, ist in einen Kassenschlitz an der Schautafel am Fuß des Turms einzuwerfen.

In unserer Turm-Serie bereits erschienen:

Musikhochschule - Der Turm der tausend Töne

Sprungturm im Inselbad - Die Mythen um den Zehn-Meter-Turm

Bismarckturm - Zwischen Heiratsantrag und Zerstörungswut

Ludwigsburg - Vom Bad im Wasserturm ist abzuraten

 Rathaus in Stuttgart - Das Glockenspiel kann viele Melodien

Türme in Stuttgart  - Die Petruskirche hat den höchsten Kirchturm