Das Grün zwischen den Grabreihen auf dem Pragfriedhof zeugt von Leerstand Foto: Lichtgut/Achim Zweygarth

Zu den „stillen Tagen“ im November wie Volkstrauertag und Totensonntag werden Gräber liebevoll geschmückt. Doch viele sind verwahrlost, und zwischen den Grabreihen klaffen von Jahr zu Jahr größere Lücken.

Stuttgart - Eine Frau legt auf dem Pragfriedhof Blumen auf das Grab ihres verstorbenen Mannes, zündet eine Kerze an. Auf dem Grabstein daneben ist der Name des Verstorbenen kaum zu lesen. Die Schrift ist verwittert. Blumen fehlen. „Das ist schon lange so. Wahrscheinlich gibt es keine Angehörigen in Stuttgart mehr“, vermutet die Frau, die den Friedhof regelmäßig besucht.

Auf rund 9000 von insgesamt 26 000 Grabstätten auf dem Pragfriedof gibt es nicht einmal mehr einen Grabstein. Die Gräber sind abgeräumt und stehen leer. Auf dem Hauptfriedhof in Bad Cannstatt sind rund 3000 von 16 000 und auf dem Waldfriedhof 4000 von 16 000 Plätzen nicht belegt. Insgesamt sind 39 000 von 160 000 Gräbern auf den 41 Friedhöfen in der Landeshauptstadt verwaist. Das sind etwa 5000 leere Gräber mehr als vor fünf Jahren. So verwahrlost, dass die Inhaber der Nutzungsrechte von der Friedhofsverwaltung angeschrieben und aufgefordert werden, die Gräber in Ordnung zu bringen, sind rund 250 Gräber. „Die Verwahrlosung ist meist die Vorstufe zur Rückgabe“, sagt Harald Aust. Er ist Leiter der Abteilung Friedhöfe und Bestattungen beim städtischen Garten-, Friedhofs- und Forstamt. Zurückgegeben wurden vergangenes Jahr 4046 Gräber, neu vergeben jedoch nur rund 1414. Zum Vergleich: 1990 wurden 2074 Nutzungsrechte neu ver- und 995 zurückgegeben.

Der Grund für die Entwicklung ist, dass viele Angehörige nicht mehr in Stuttgart leben und sich nicht selbst um die Grabpflege kümmern können. Übernimmt eine Gärtnerei diese Aufgabe, kommen zur Nutzungsgebühr für eine Standardbepflanzung fürs Sarggrab etwa 300 und fürs Urnengrab 200 Euro pro Jahr dazu. „Die Ausgaben können oder wollen sich viele nicht mehr leisten“, so eine Gärtnereimitarbeiterin. Auch Aust geht davon aus, dass Wahlgräber deshalb nach 20 Jahren häufiger zurückgegeben werden. Das Nutzungsrecht für Reihengräber verfällt nach den vorgeschriebenen 20 Jahren Totenruhe automatisch.

Mehr Platz auf den Friedhöfen gibt es aber auch, weil der Trend vom Sarg- zum kleineren Urnengrab weiter steigt: Ließen sich im Jahr 2000 noch rund 53 Prozent aller Verstorbenen verbrennen, sind es mittlerweile fast 70 Prozent. „Pro Jahr geht diese Zahl um etwa ein Prozent hoch“, stellt Aust fest.

Außerdem nimmt die Nachfrage nach Baumgräbern stark zu: Als sie 2005 auf dem Waldfriedhof erstmals angeboten wurden, lag die Zahl bei 80 Beisetzungen. Mittlerweile sind es 120 – und das, obwohl es seit 2010 auch auf dem Neuen Friedhof in Weilimdorf Baumgräber gibt. Beigesetzt wird dort seither etwa 70-mal im Jahr. Seit Mitte dieses Jahres werden auch auf den Friedhöfen in Feuerbach und Untertürkheim Baumgräber angeboten.

Auch die Bestattungen auf den sogenannten Rasengräbern auf dem Hauptfriedhof sind seit der Einführung 2007 von etwa 20 Beisetzungen pro Jahr in den ersten drei Jahren auf jetzt 50 angestiegen. Die Rasengräber unterscheiden sich von anderen Gräbern dadurch, dass Rasen den Blumenschmuck ersetzt. Sowohl Rasen- wie Baumgräber sollen künftig möglichst auf allen Friedhöfen angeboten werden. Um Rasengräber werden im kommenden Frühjahr die Friedhöfen in Botnang und Wangen erweitert. Durch die Ausweitung der alternativen Bestattungsformen konnte laut Aust der Trend zur anonymen Bestattung gestoppt werden. Sie liegt seit Jahren bei etwa 600 pro Jahr

Weil die Einnahmen durch die Grabrückgaben sinken, hat das Garten-, Friedhofs- und Forstamt die Nutzungsgebühren Anfang dieses Jahr erhöht: Das Wahlgrab für die Sargbeisetzung kostet jetzt 1960 Euro für 20 Jahre. Das sind 300 Euro mehr. Das Urnenwahlgrab gibt es für 1740 Euro. Vorher waren es 1520 Euro. Und ein Reihengrab für den Sarg schlägt mit 940 Euro, für die Urne mit 700 Euro zu Buche. Das ist ein Plus von rund 120 beziehungsweise 60 Euro. „Wir müssen zu 80 Prozent kostendeckend arbeiten“, begründet Aust die Gebührenerhöhung. Seine Betriebskosten liegen bei rund 18 Millionen Euro im Jahr. Erwirtschaftet werden derzeit lediglich 75 Prozent.

Gingen die Statistiker der Stadt bis vor kurzem noch davon aus, dass sich die Lücken auf den Friedhöfen dadurch schließen, dass in den kommenden Jahren mehr Einwohner mit Migrationshintergrund aus katholisch geprägten Ländern sterben und sich im Sarg bestatten lassen, bezweifeln sie das mittlerweile wieder. „Deren Zahl wird nicht ausreichen, um die Lücken zu füllen“, sagt Chef-Statistiker Thomas Schwarz.

Die Frau auf dem Pragfriedhof will derweil die Nutzungsrechte am Grab ihres Mannes auf jeden Fall verlängern. „Das bin ich ihm schuldig, und ich möchte einen Ort haben, wo ich an ihn denken kann“, sagt sie und recht das Laub zusammen.