Anton Gschwendtner, der einst im Stuttgarter Olivo kochte, möchte im Atelier zwei Sterne verteidigen. Mindestens. Warum ist München derzeit zur Gourmethochburg schlechthin aufgestiegen?
Die Fußstapfen sind groß, sehr groß für Anton Gschwendtner. Als der Koch Jan Hartwig seinen Abschied aus dem Münchner Spitzenrestaurant Atelier im Bayerischen Hof ankündigt, steht die Gourmetszene kurz still. Hartwig gilt als Überflieger am Herd, erkocht 2017 drei Sterne und hält sie auch noch. Als er dem Restaurant am Promenadeplatz Adieu sagt, um den Schritt in die Selbstständigkeit zu wagen, klingelt bei Anton Gschwendtner in Stuttgart das Telefon.
Für den aufstrebenden Koch ist das eine riesige Chance
Für den Koch aus dem Olivo, dem Gourmetrestaurant des Steigenberger Hotels Graf Zeppelin in Stuttgart, ist es eine riesige Chance, an eine der besten Adressen des Landes zurückzukehren. Die Münchner Hotelchefin Innegrit Volkhardt traut ihm diese Aufgabe zu: ein neues Team aufzubauen, kulinarisch neue Wege zu gehen. Schließlich ist er dort kein Unbekannter: Von 2006 bis 2014 hat er hier als Souschef, also an zweiter Stelle, gearbeitet. Und das Atelier – die Sterne werden an das Restaurant und nicht an Chefköche vergeben – bekommt mit Gschwendtner 2022 zwei Sterne. Selbst die Stuttgarter, die das Olivo schmerzlich vermissen, bleiben ihm nach wie vor treu – und besuchen ihn in München.
Kein Chichi soll von den Produkten ablenken
Vom Auftreten her ist der 38-jährige Gschwendtner eher ein Leisetreter, keiner, der in TV-Sendungen den Hansdampf gibt. Auf dem Teller aber geizt er keineswegs mit Zurückhaltung: In seinem 7-Gang-Menü kombiniert er Jakobsmuschel mit Kalbskopf und erfrischender Buttermilch, schwarzen Seehecht mit Schnittlauch, Roter Bete, grüner Shiso-Vinaigrette und Dashibutter. Und sein glasiertes Kalbsbries mit Alb-Linsen, Champignon, Sellerie und Sherry ist absoluter Publikumsliebling. Gschwendtner ist Perfektionist, einer, dem es auf den puren Geschmack ankommt.
Es ist ein kalter Februarabend in München, ein kunterbuntes Publikum besucht das Atelier: Zwei gut situierte Frauen um die 60 („bitte wenig Alkohol“) haben einen lässigen Freundinnenabend. Koreanische Mittzwanzigerinnen, die Fotos von sich und ihrem Essen machen und diese in Echtzeit in die sozialen Medien stellen, sprechen wenig miteinander. Immer wieder hallen „Aaaaaahs“ und „Oooooohs“ durch den Raum.
In keiner anderen deutschen Stadt boomt die gehobene Gastronomie so sehr
Die Restaurantleiterin Daniela Heizmann, die zuvor in den Drei-Sterne-Restaurants von Andreas Caminada in der Schweiz und im Degerlocher Waldhotel gearbeitet hat, führt durch den Abend im schick-schummrigen Restaurant, gestaltet von Axel Vervoordt, der inzwischen mehr als Kunstsammler denn als Innenarchitekt gilt. In Lokalen wie dem Atelier kommt es auf alles an, auf gestärkte Tischdecken wie auf exquisite Weinbegleitung, auf das Essen und auf das Ambiente.
Wenn am 4. April die Michelin-Sterne in Karlsruhe vergeben werden, könnte es gut sein, dass München im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen wird. In keiner anderen Stadt boomt die gehobene Gastronomie so sehr wie hier. Fine Dining, feines Speisen, kann man deutschlandweit derzeit nirgends so gut und in einer solchen Frequenz wie in der bayerischen Metropole. Nur ein Restaurant mit drei Sternen, der höchsten Auszeichnung des berühmten Restaurantführers Guide Michelin, der Bibel aller Gourmets, gibt es nicht.
Die Wiege der deutschen Haute Cuisine
Überhaupt: In München wurde schon immer groß aufgetischt. Das mondäne Tantris gilt als Wiege der deutschen Haute Cuisine. Mehr Münchner Schickeria, mehr optische Nostalgie geht nicht als hier im Norden Schwabings: draußen die Löwenskulpturen, drinnen Verner-Panton-Lampen. Hummerrot und Trüffelschwarz dominieren das Gesamtbild, man sitzt auf schwarzsamtenen De-Sede-Stühlen aus den 70ern. Eckart Witzigmann hat hier 1971 die Nouvelle Cuisine in Deutschland eingeführt.
„München war schon immer eine genussaffine Stadt“
„Die Münchner Fine-Dining-Szene boomt, in keiner anderen deutschen Großstadt gab es in den vergangenen zwei bis drei Jahren so viele Neueröffnungen im Highend-Bereich“, sagt die Münchnerin Patricia Bröhm. Und sie muss es wissen, sie kennt sich mit der Sterneliga bestens aus. Sie war von 2012 bis 2020 Chefredakteurin des „Gault & Millau Deutschland“, heute ist sie als Gastrojournalistin und Restaurantkritikerin weiterhin deutschlandweit unterwegs.
Bröhm benennt auch die Gründe: „München war schon immer eine genussaffine Stadt, in den 70er Jahren zählte es zu den Wiegen des sogenannten deutschen Küchenwunders. Mehr als überall sonst in Deutschland gibt es ein genussaffines Publikum, das bereit ist, für gehobene Küche Geld auszugeben, und über die entsprechenden Mittel verfügt.“
Jenes Publikum hat in München mittlerweile die Qual der Wahl: In der Schreiberei verwirklicht Tohru Nakamura seine ganz eigene, ausgezeichnete Version von Fine Dining. Im Restaurant Alois im traditionellen Dallmayr-Haus kocht seit einem halben Jahr der aufstrebende Max Natmessnig. Im Werneckhof steht mit Sigi Schelling eine Frau am Herd. Im Les Deux kocht Nathalie Leblond. Dazu gibt es in der Weißwurst-City noch viele weitere Restaurants, die in Karlsruhe ihre Sterne verteidigen oder aufgewertet werden könnten: Bobby Bräuer im Esszimmer, das Mural sowie das Schwesternrestaurant Mural Farmhouse mit seinem Farm-to-Table-Konzept, das Brothers und viele mehr.
Die Menüs gehen bei rund 250 Euro los
Doch in München liegen die Preise weit über dem Schnitt. Die Mehrgang-Menüs bewegen sich zwischen 250 und 320 Euro – ohne Getränke. Das scheint in München aber kein Problem zu sein. „Die Nachfrage ist ungebrochen hoch“, sagt Atelier-Küchenchef Anton Gschwendtner im Gespräch. Das Atelier im legendären Grandhotel Bayerischer Hof profitiert natürlich vom Haus selbst, von der Internationalität der Gäste.
Für Gschwendtner ist es Heimat: Er ist in einem Dorf bei Freising nahe München aufgewachsen, seine Eltern betreiben einen Landgasthof. Wenn er sich an den Geschmack seiner Kindheit erinnert, ist das vor allem Schweinebraten. Gschwendtner weiß genau, wie echte Lebensmittel schmecken müssen: wie gute Kartoffeln, frische Butter oder ordentlicher Käse munden. Er kennt aber nicht nur die bayerische Küche, sondern auch das Hotel gut. „Für mich als Bayer im Bayerischen Hof zu kochen ist natürlich ein sehr sympathischer Aspekt“, sagt Gschwendtner.
In Stuttgart erkocht er zum ersten Mal zwei Sterne
Nach seiner Zeit als Souschef im Bayerischen Hof wechselt er 2014 in die erste Reihe: zuerst ins Délice la Brasserie im Fünf-Sterne-Haus Sofitel Bayerpost am Münchner Hauptbahnhof, danach kocht er im Das Loft in Wien seinen ersten Stern und wechselt 2018 an den Stuttgarter Hauptbahnhof ins Olivo im Steigenberger Hotel Graf Zeppelin. Hier hat er nicht nur eine tägliche Sicht auf die Baustelle: 2019 kommt der erste Stern, 2020 packt er Stuttgart auf einmal auf die Zwei-Sterne-Landkarte. „Das war natürlich ein emotionaler Moment, als der Anruf aus Paris kam“, erinnert sich Gschwendtner.
Essen gehen ist für viele zum Hobby geworden
„Ich denke nicht an Punkte oder Sterne“, sagt Gschwendtner den typischen Satz eines Spitzenkochs. „Man steht jeden Tag auf und versucht immer wieder, sich weiterzuentwickeln und sich zu verbessern.“ Am Ende muss jedes Team an jedem Öffnungstag aufs Neue alles geben, vor allem in der Spitzenküche greift da eins ins andere, sind der Sommelier und die Restaurantleitung ebenso wichtig.
Und die Gäste kennen sich immer besser aus. Das merkt auch Gschwendtner: „Essen gehen ist zu einem leidenschaftlichen Hobby geworden. Die Leute beschäftigen sich sehr damit, kennen die Produkte, die Kollegen, können die Tendenzen einschätzen“, so der Küchenchef. Das heißt aber auch, dass jeder Gast ein potenzieller Kritiker ist, das Internet kann ja schließlich ein großes Haifischbecken sein, in dem jeder kleine Hecht anonym kommentiert.
„Es ist wichtig, dass wir uns in München nicht als Konkurrenz sehen. Der Gast kann mit seinem Budget auch nach London oder Barcelona fliegen und dort essen gehen“, sagt Tohru Nakamura von der Schreiberei. „Uns muss bewusst sein, dass wir als kulinarische Destination mit so viel Angebot interessant bleiben. Aber ein Restaurant lebt nicht nur vom internationalen Foodie, sondern auch von den regionalen Stammgästen, die vier-, fünfmal im Jahr kommen.“
Die Münchner Fine-Dining-Szene ist gerade, hier darf die Wortspielerei natürlich sein, in aller Munde. Gschwendtner nennt vor allem die Vorteile, die diese lebendige Situation bietet: „Das ist ein spannendes Umfeld. Es gibt hier sehr viele Kollegen, die auf höchstem Niveau kochen. Und das ist, glaube ich, für jeden Reisenden, der eine Leidenschaft für gutes Essen hat, spannend.“ So haben finanziell gut aufgestellte Foodies, die weltweit die 50-Best-Liste und die Sternehäuser abhaken, jetzt schon sehr viele gute Gründe, nach München zu reisen. Nach der Sterneverleihung in Karlsruhe könnten es noch einige mehr sein.