Noch sind sie Freunde: Pasquale Aleardi, Maxim Mehmet, Miriam Stein (v.li.) in „Gotthard“ Foto: ZDF

TV-Event Historienfilm, Liebes-Melodram, Sozialdrama – der ZDF-Zweiteiler „Gotthard“ ist von allem etwas.

Stuttgart - Fünfzehn Kilometer ist der Gotthardtunnel lang; 2500 Menschen hat das 1882 fertiggestellte Jahrhundertbauwerk das Leben gekostet, auch jene einberechnet, die, in ihre Heimat zurückgekehrt, an den Folgen ihrer Arbeit starben. „Alle sechs Meter liegt also ein Mensch, der Träume hatte, eine Familie ernährte und geliebt wurde“, errechnet der Autor Stefan Dähnert im Presseheft zum ZDF-Zweiteiler „Gotthard“. Zum Vergleich: Der am 1. Juni 2016 eröffnete Gotthard-Basistunnel mit 57,1 Kilometern Länge, der den Anstoß zum elf Millionen Franken teuren schweizerisch-österreichisch-deutschen Filmprojekt gab, erforderte neun Tote.

Nüchterne Fakten, aufwühlende Emotionen: Beides hat der Drehbuchautor Dähnert in seinem insgesamt dreistündigen Advents-TV-Event zusammengepackt. Mit dem Regisseur Urs Egger erzählt er die Geschichte des Gotthard-Großprojekts „von unten“ und macht das zehn Jahre währende Drama der technischen Bezwingung des Alpenmassivs zum „Drama der Menschen vor Ort“. So lassen Dähnert und Egger in „Gotthard“ nicht nur Berg und Mensch, Natur und Technik, Kapitalismus und Arbeiterausbeutung aufeinanderprallen, sondern vor allem die Gefühlslagen ihrer drei Protagonisten.

Im Bergdorf Göschenen, am Nordportal des Eisenbahntunnels, begegnen sich im Jahr 1873 die schweizerische Fuhrmannstochter Anna (Miriam Stein), der angehende deutsche Ingenieur Max Bühl (Maxim Mehmet) und der Piemonteser Mineur Tommaso (Pasquale Aleardi). Der spektakuläre Bau der Nord-Süd-Achse beschert allen dreien Arbeit und Zukunftsperspektiven, gleichzeitig führt er sie emotional zusammen. Aus anfänglicher Freundschaft wird Liebe und daraus schließlich eine unglückliche Ménage à trois. Während Max die Interessen seines Arbeitgebers, des Bauunternehmers Louis Favre (Carlos Leal), vertritt, avanciert Tommaso zum Anführer der geschundenen Arbeiterschaft. Bald stehen die Freunde sich als erbitterte Kontrahenten gegenüber.

Der Felsstaub kratzt beim Zuschauen im Hals

Die Dreiecks-Geschichte von Anna, Max und Tommaso dient als Folie, vor der die sozialhistorischen Dimensionen des Zivilisations-Projekts verhandelt werden. Sämtliche Dramen, die den Bau begleiteten, werden gestreift: technische Pionierleistungen und Katastrophen, der drohende Bankrott von Favres Baugesellschaft, Arbeiteraufstände, Krankheiten und Seuchen.

Der Ausstattungsaufwand ist enorm; die dreck-, lärm- und schweißgeschwängerten Tunnelbauszenen wurden in einem neunzig Meter langen Nachbau in einer Kölner Industriehalle gedreht. Es gelingt zwar, die extremen Arbeitsbedingungen der Mineure plastisch zu machen; der dokumentarische Ehrgeiz schießt bei Szenenbild (Knut Loewe) und Kostümen (Birgit Hutter) allerdings übers Ziel hinaus. Daran dürfte die digitale Bildbearbeitung ihren Anteil haben: Kulisse und Kostüme erscheinen als Sinfonie der Grautöne; der Felsstaub, der sich über allem zu liegen scheint, kratzt beim Zuschauen regelrecht im Halse.

Historienfilm, Liebes-Melodram, Sozialdrama: „Gotthard“ ist von allem etwas – genau diese Unentschiedenheit ist die große Schwäche des Zweiteilers. Denn es bleibt kein Raum, um die tragenden menschlichen Konflikte psychologisch zu untermauern. Sie bleiben lediglich hohle Behauptung, so überzeugend alle drei Hauptdarsteller auch auftreten mögen. Das Casting hat mit Maxim Mehmet als Ingenieur Max ein noch kaum verbrauchtes Fernsehgesicht aufgetan und mit Joachim Król, Max Simonischek und Roeland Wiesnekker auch Nebenrollen prominent besetzt. Pasquale Aleardi kann als Arbeiteranführer seine stattliche Männlichkeit ausspielen, Miriam Stein ist eine starke, erstaunlich emanzipierte Anna.

Statt bei den Figuren mehr in die Tiefe zu gehen, gefallen sich Regie und Drehbuch aber darin, allerlei Genre-Ausflüge zu unternehmen: Egger und Dähnert verbreiten Western-und Frontier-Flair – unter anderem, indem sie Marie Bäumer als schweizerische Ausgabe der Saloon-Prostituierten auftreten lassen. Dazu kommt noch ein kräftiger Schuss Revolutionsromantik – inklusive Gefangenenchor, den die Arbeiter beim Streik vor dem Tunneleingang anstimmen. Am Ende begraben Kitsch, Klischees und Herzschmerz die abenteuerliche, facettenreiche Geschichte des historischen Tunnelbaus unter sich.