Rainer Groh unterrichtete Russisch am Leibniz-Gymnasium. Als er 1989 mit seinen Schülern den nun verstorbenen Kremlchef traf, stellte Gorbatschow eine Schülerin auf die Sprachprobe.
Umarmt habe er ihn erst bei der zweiten Begegnung. Als Rainer Groh am 14. Juni 1989 zum ersten Mal auf Michail Gorbatschow trifft, schüttelt der ihm die Hand. Der damalige Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion ist auf Stuttgart-Besuch bei Ministerpräsident Lothar Späth. Tausende warten auf dem Schlossplatz. In den Marmorsaal des Neuen Schlosses hat Späth 200 Gäste der baden-württembergischen Prominenz geladen. Der Künstler Otto Herbert Hajek ist darunter. Der ehemalige Ministerpräsident Filbinger. Und der Lehrer Rainer Groh.
35 Jahre lang unterrichtete der heute 81-Jährige am Stuttgarter Leibniz-Gymnasium, auch im Fach Russisch – der Grund, warum er und fünf seiner Schüler zum Empfang geladen wurden. Als Gorbatschow die Gäste begrüßt, stellt ihm Groh eine der fünf als die beste Russischschülerin der BRD vor. Immerhin habe sie zuvor die Bundesolympiade Russisch gewonnen. „Eine Schwäbin mit besserer Aussprache als Späths Übersetzer“, sagt Groh. „Das prüfe ich“, habe Gorbatschow gesagt und die Schülerin in ein Gespräch verwickelt. Über ihre dörfliche Herkunft sprechen sie – Steinenbronn bei Böblingen und Priwolnoje im Nordkaukasus – und über das Abkommen zum Schüleraustausch zwischen BRD und Sowjetunion, das Gorbatschow und Helmut Kohl einen Tag zuvor unterzeichnet hatten.
„Der Austausch fiel ins Wasser“
Das Leibniz-Gymnasium ist eine der fünf Schulen in Baden-Württemberg, die eine Partnerschule in der Sowjetunion erhalten: Leningrad, heute Sankt Petersburg in Russland. „Ein Glück“, sagt Groh. Die Partner anderer Schulen liegen in der heutigen Republik Moldau, in Georgien und Estland. Als die Sowjetunion zwei Jahre später zerfällt, will man dort kein Russisch mehr sprechen. „Der Austausch fiel ins Wasser“, sagt Groh.
Noch zwei weitere Male trifft Groh auf Gorbatschow, während des deutsch-russischen Forums Petersburger Dialog in den Jahren 2005 und 2007. Groh begleitet Schüler, die mit russischen Jugendlichen diskutieren sollen. Als er Gorbatschow einen nach der Zarentochter Katharina benannten Wein vom Rotenberg schenkt, umarmt der ihn spontan. Typisch, findet Groh: „Er hielt mit seinen Gefühlen nicht hinterm Berg.“ Dass es ein schwäbischer Wein war, habe Gorbatschow gefallen, sagt Groh: „Er hat wohl in seiner Kindheit mit Schwaben zu tun gehabt.“ Auch die Stuttgarter Kirchenglocken, deren Läuten er laut Groh bei einem Besuch in den 1970er Jahren hörte, hätten Gorbatschow beeindruckt. So sehr, dass er sie in seiner Ansprache beim Empfang im Jahr 1989 erwähnt habe: „Kirchenglockenläuten gab es in der Sowjetunion ja nicht“, meint Groh.
„Das darf nicht kaputt gemacht werden“
Bis zum Jahr 2005 organisiert Groh den Schüleraustausch. Auch nach seiner Pensionierung unterstützt er dieses und weitere Austauschprogramme zwischen Jugendlichen, nun mit Stuttgarts Partnerstadt Samara. Seit 2019 gibt es den Schüleraustausch nicht mehr. Groh aber hält Kontakt mit den russischen Kollegen. Auch nach der erneuten russischen Invasion der Ukraine im Februar. Auch wenn er manchmal das Gefühl habe, die Telefongespräche würden nun abgehört. Auch wenn er klar gesagt habe, dass er Russlands Krieg verurteile: Die Beziehung halte all das aus, sagt Groh: „Für mich ist das auch das Vermächtnis Gorbatschows. Das darf nicht kaputt gemacht werden.“