Geistreich und hadernd zeigt sich der nun verstorbene russische Revolutionär Michail Gorbatschow in dem Dokumentarfilm „Gorbatschow. Paradies“. Arte hat das Werk aus aktuellem Anlass wieder in die Mediathek gestellt.
Moskau - Natürlich beginnt alles mit dem historischen Moment, in dem Michail Gorbatschow „Perestroika“ und „Glasnost“ ausrief, den Eisernen Vorhang teilte und die Berliner Mauer zum Einsturz brachte. Wie er das schaffen konnte? Der ukrainische Dokumentarfilmer Vitaly Mansky versucht, dem verstorbenen 91-Jährigen auf die Spur zu kommen.
Das erweist sich als nicht einfach. Gorbatschow sagt zwar, der Film sei ihm wichtig, und sie dürften „die Sache auf keinen Fall verbocken“ – aber er mauert an entscheidenden Stellen, weicht geschmeidig aus oder flüchtet in Sarkasmus. Weil Mansky nicht lockerlässt, kristallisieren sich dennoch deutliche Konturen heraus.
Im Westen geschätzt, in Russland verachtet
„Gorbatschow. Paradies“ zeigt einen geistreichen Greis, der sich als ein Missverstandener sieht und damit hadert, dass viele Russen ihm nicht folgen wollten auf seinem Weg in die Freiheit. Im Westen wird er hoch geschätzt dafür, dass er den Kalten Krieg beendete, die post-stalinistische Verfolgung und Unterdrückung einstellte. In Russland dagegen sehen viele in ihm den Zerstörer der heute mythisch verehrten Sowjetunion.
Er bereut, nicht hart genug gewesen zu sein
„Ich war überzeugt von meiner Sache“, sagt Gorbatschow. „Alle reden ständig von Fehlern. Aber wer ist schon in der Lage, mit dem Allmächtigen in Konkurrenz zu treten?“ Mit Blick auf den Putschversuch hochrangiger Parteikader 1991, auf den Gorbatschow nicht mit aller Härte reagierte, sagt er: „Es zeigt, dass ich schwach bin. Ich habe keinem von ihnen den Kopf abgehauen.“ Er bereue aber nicht, „nicht zu den Methoden meiner Vorgänger gegriffen“ zu haben.
Er habe auch militärische Gewalt gegen abtrünnige Sowjetrepubliken abgelehnt und bestreitet erneut, für die Auseinandersetzungen in Litauen 1991 verantwortlich zu sein. Gorbatschow bezeichnet sich selbst nach wie vor als „Sozialisten“ und Lenin, den Gründer der Sowjetunion, als „Gott“.
In Moskau: „menschliche Abgründe“
Erschüttert habe ihn aber der „Sumpf“ im Zentrum der Macht in Moskau: „Erschießungslisten“, „menschliche Abgründe“. Bis zuletzt habe er für den Erhalt einer besseren Sowjetunion gekämpft. Den Todesstoß versetzt habe ihr sein Nachfolger Boris Jelzin, „eine impertinente Person, ein Dummkopf, ein Wirrkopf“, der „einen halben Eimer austrinken konnten und seinen Rausch dann hinter einem Flugzeugreifen ausschlief“.
Haften bleibt das Bild eines Revolutionärs, der in der Defensive feststeckt und sich ständig rechtfertigen muss, menschlich gehandelt zu haben. Mansky zeigt Gespräche, in Gorbatschows Villa, die ihm nicht gehört, wie er betont, sondern dem Staat, und in dessen Stiftung. Dabei wird es auch persönlich, der Politiker erzählt von der besonderen Verbindung zu seiner 1999 verstorbenen Frau Raissa und von den Weizenfeldern seiner Heimat Stawropol. Zwischendurch singt er ein Lieblingslied seiner Mutter über ein lauschiges Wäldchen, „ein Paradies“.
Er bedauert, dass Putin nicht mit ihm redet
Beim Silvester-Essen mit Freunden hält der russische Präsident Wladimir Putin, von dem Gorbatschow bedauert, dass dieser nicht mit ihm spricht, im Fernsehen eine Ansprache. Dann erklingt die russische Nationalhymne. „Freies Vaterland“, sagt Gorbatschow. „Und wer hat die Freiheit gebracht?“
Nun ist Michail Gorbatschow im Alter von 91 Jahren gestorben. Vitaly Manksy hat den großen, tragischen Reformer gerade noch rechtzeitig zu fassen gekriegt – zumindest ein bisschen.