Wo man miteinander redet, entsteht Nähe unter Nachbarn – über kulturelle Grenzen und sprachliche Barrieren hinweg. Diese Hocketse in der Sindelfinger Viehweide beweist es. Foto: Beate Faust

Nach den guten Erfahrungen mit langjähriger Quartiersarbeit im Eichholz und in der Viehweide will Sindelfingen das Modell auf den Goldberg und ins Hinterweil ausdehnen. Ziel ist ein Zusammenhalt, wie man ihn auf dem Dorf noch kennt.

Sindelfingen - Wenn Sindelfinger nach Darmsheim kommen oder Maichingen – sei es zur Dorfhocketse oder zum Rosstag –, sind sie jedes mal baff über den Zusammenhalt dort. Nirgendwo auf Sindelfinger Gemarkung ist das Vereinsleben so aktiv, integrativ. „So hätten wir es in Sindelfingen selbst auch gerne“, sagt Stadtchef Bernd Vöhringer. Kürzlich hat er angekündigt, man wolle die Begegnungsmöglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger in der Kernstadt stärken. Das Stadt-/Landgefälle wird womöglich nie aufzuheben sein. Es ist den unterschiedlichen Lebensbedingungen geschuldet. Aber Potenziale seien da. Sie gelte es zu nutzen.

 

„Potenziale“ – damit gemeint ist die Quartiersarbeit, wie man sie aus dem Eichholz und aus der Viehweide kennt. Dort kümmern sich professionelle Sozialarbeiterinnen seit Jahren darum, die Menschen zusammenzuführen – über alle Herkünfte und Wohnsituationen hinweg. Dass das, Raum vorausgesetzt, funktioniert, zeigt nicht nur der Inseltreff im Eichholz. In dem ehemaligen Kindergarten wird seit Anfang der 2000er-Jahre gemeinsam gekocht, gebastelt, geschwätzt, getanzt. Oder gemeinsam wilder Müll eingesammelt mit abschließender Hocketse.

Gelebter Geist der Gemeinsamkeit

Auch in der Viehweide, wo es ebenso die Zweiteilung zwischen einerseits Einfamilien- und andererseits Hochhäusern gibt, hat sich ein Geist der Gemeinsamkeit entwickelt. Sozialarbeiterin Beate Faust weiß viele Ehrenamtliche an ihrer Seite, wenn es was zu tun und was zu feiern gibt. Die Zeiten des Container-Provisoriums als Anlaufpunkt sind vorbei, seitdem das katholische Gemeindezentrum als Stadtteiltreff an der Albrecht-Dürer-Straße renoviert worden ist.

Mittels staatlicher Anschubfinanzierung und einer Profi-Sozialkraft die Ressourcen bürgerschaftlich-ehrenamtlichen Engagements zu nutzen, ist in Sindelfingen zu einem Erfolgsmodell geworden. Der Gemeinderat hat deshalb 2018 beschlossen, für ein weiteres Gebiet Fördermittel im Rahmen des Programms „Soziale Stadt“ zu beantragen. Die Stadtentwicklungs-GmbH STEG wurde beauftragt, hierfür Goldberg, Hinterweil, Rotbühl und Spitzholz auf ihre Eignung hin zu untersuchen. Dazu haben 2018 und 2019 zwei Workshops mit „Schlüsselakteuren“ und Ortsrundgänge stattgefunden.

Ergebnis: Der Goldberg, das Hinterweil und das Spitzholz weisen die größten Herausforderungen auf, aber (deshalb) auch die größten „Gestaltungspotenziale“. Das Rotbühl gilt als intakter. Goldberg und Hinterweil hätten deshalb „höchste Priorität für die Durchführung städtebaulicher und sozialer Maßnahmen“, folgert die Studie.

Ist eine Stelle auf dem Goldberg bis Anfang 2023 besetzt?

Hans-Georg Burr, Leiter des Amts für Soziales, ist froh, dass nach dem Eichholz und der Viehweide nun weitere Quartiersarbeiten geplant sind. Entsprechende Anträge auf Förderung würden an den Bund beziehungsweise das Land gestellt, sagt der 63-Jährige. Burr ist optimistisch, dass man am Goldberg Anfang 2023 mit einer Stelle starten könne, Bewilligung vorausgesetzt. Fürs Konzept ist wieder der Stadtjugendring zuständig. Ein Partner nach Wahl für den langjährigen Sozialamtsleiter. Man habe in vielen Jahren sehr gute Erfahrungen mit dessen Personal und Kompetenz gemacht. Dieses verstünde als Träger viel von sozialer Arbeit. „Die haben Power bei der Kinder- und Jugendarbeit“, urteilt der Amtschef.

Vorteil für den Goldberg: Der rührige Bürgerverein, 2015 gegründet und über 50 Köpfe stark, gilt als solider Ansprechpartner. Und auch einen Raum werde man finden als Treff, ist Burr zuversichtlich. Entweder im Haus der Donauschwaben oder in Räumen der Kirche(n). Gemeindehäuser in Sindelfingen sind, wie berichtet, zunehmend unausgelastet. Die evangelische Kirche hat jüngst thematisiert, von welchen Immobilien sie sich wegen sinkender Kirchensteuer womöglich trennen muss. Oder wie die Räumlichkeiten synergetisch genutzt werden könnten.

Die „Selbstinitiative“ und die Quartiersarbeit haben viel vor sich; vor allem Schritte zu einer Reaktivierung des siechenden Berliner Platzes mit nicht mehr vorhandener Nahversorgung. Sie können sich aber auch in die Gestaltung der Frei- und Aufenthaltspotenziale einbringen, wenn über der A 81 künftig ein Deckel ist.

Im Hinterweil fehlt es an einem Ort der Begegnung

Auch im Hinterweil, Kind der 80er-Jahre, liegt vieles im Argen. Am Ladenzentrum/Nikloaus-Lenau-Platz fehlen Einkaufsmöglichkeiten und Begegnungsorte. Um den energetischen Sanierungsbedarf vieler strombeheizter Wohnungen soll sich ein Klimaschützer kümmern. Bewerbungen liegen vor. Ziel der Stadt ist es, auch im Hinterweil eine Quartierarbeit aufzubauen, die es schafft, das (wieder) zu verankern, was dem Wohn-Trabanten fehlt – eine gebaute Mitte. Die Gemeinsamkeit in der Siedlung, die einmal eine aktive „Hinterweiler Runde“ und Feste kannte, habe gelitten, bedauern viele. Vielleicht sind mit professioneller Hilfe ja Selbstheilungskräfte wieder zu heben. Im Ökumenischen Gemeindezentrum könnte ein gemeinsames Büro von Quartiersarbeit und Klimamanagement entstehen.

Eichholz und in Viehweide als Musterbeispiele der „Sozialen Stadt“

Lebendige Nachbarschaften
 Mit dem Städtebauförderungsprogramm „Soziale Stadt“ unterstützten Bund und Länder zwischen 1999 und 2019 die Stabilisierung und Aufwertung städtebaulich, wirtschaftlich und sozial benachteiligter und strukturschwacher Stadt- und Ortsteile. Städtebauliche Investitionen in das Wohnumfeld, in die Infrastrukturausstattung und in die Qualität des Wohnens sorgten für mehr Generationengerechtigkeit sowie Familienfreundlichkeit im Quartier und verbesserten die Chancen der dort Lebenden auf Teilhabe und Integration. Ziel war, vor allem lebendige Nachbarschaften zu fördern und den sozialen Zusammenhalt zu stärken.

Zusammenhalt
 Bis 2019 wurden 965 Gesamtmaßnahmen in 544 Städten und Gemeinden über das Programm gefördert. Ein Großteil der noch laufenden Maßnahmen wird seit 2020 im Programm „Sozialer Zusammenhalt“ weiter gefördert.