Gegnern von Großprojekten wie Stuttgart 21 geht es laut der Göttinger Studie nicht nur um die Sache, sondern auch um Eigennutz. Foto: dpa

Typische Gegner von Großprojekten sind sozial privilegiert und keineswegs selbstlos.

Stuttgart/Göttingen - "Wutbürger" oder einfach nur Egoisten? Göttinger Forscher haben jetzt herausgefiltert, dass es den Gegnern von Großprojekten wie Stuttgart 21, Windrädern und Hochspannungsmasten neben der Kritik an politischen Prozessen vor allem um eines geht: um blanken Eigennutz.

Die Bilder gehören fast schon zum Nachrichtenalltag: brennende Autos in Berlin, plündernde Demonstranten in London, Straßenschlachten mit Polizisten in Athen: Quer durch Europa sorgt die revoltierende Jugend für Schlagzeilen. Sie hat in der öffentlichen Wahrnehmung damit die "Wutbürger", die im vergangenen Jahr in Deutschland mit ihren Protesten für Aufsehen gesorgt hatten, verdrängt.

Kein Wunder: Der deutsche "Wutbürger" wirkt gegenüber dem jungen englischen Sozialrebellen oder den französischen "jeunes de banlieus" langweilig: weniger viril und militant, mehr kleinbürgerlich und mosernd. Das ist das Ergebnis einer Mitte Juli 2011 abgeschlossenen Studie des Göttinger Instituts für Demokratieforschung.

Nur 28 Prozent würden Volksabstimmung anerkennen

In welche politische Richtung die Proteste gehen, ob einzelne Strömungen des Widerstands gegen Großprojekte zusammenfließen oder durch verschiedene Interessen auseinanderstreben, lasse sich, so die Göttinger Forscher, noch nicht seriös vorhersagen. Die Wissenschaftler hatten ihre Fragebögen an die Protestbewegung gegen Stuttgart 21, die Vertreter und Sprecher von Initiativen gegen Windräder und Freileitungen in ganz Deutschland, die Teilnehmer einer Großdemonstration Pro Erdkabel in Hannover gegen Hochspannungsleitungen sowie Demonstranten gegen den Flughafenausbau Berlin Brandenburg verteilt. Rund 2000 Stellungnahmen wurden ausgewertet.

Danach sehen "Wutbürger" so aus: Fast zwei Drittel sind älter als 46. Nahezu die Hälfte hat einen Universitätsabschluss. Auf der Links-Rechts-Achse politischer Selbstzuordnung reihten sich 30 Prozent der S-21-Gegner ganz links ein - vor einem halben Jahr hatten dies nur 11,9 Prozent getan.

Drei Viertel der Demonstranten gegen Stuttgart 21 sind mit ihrer eigenen Situation zufrieden; mit der politischen Lage der Republik hingegen sind weit über 50 Prozent unzufrieden. Militant zu Werke gehen will das Gros nicht. Nur 15 Prozent betrachten Sachbeschädigung als ein geeignetes Mittel, um das Bahnhofsprojekt zu verhindern. Die große Mehrheit ist für Volksabstimmungen. 80 Prozent glauben aber nicht, so den Streit um S 21 zufriedenstellend lösen zu können. Nur 28 Prozent würden das Ergebnis anerkennen, wie immer es auch ausfällt, so Institutsleiter Franz Walter.

"Wutbürger" besonders häufig Unternehmer

Protestgruppen gegen Windkraft, oberirdische Stromleitungen oder Flughafenerweiterungen müssen der Bürgerbewegung gegen Stuttgart 21 von der Zusammensetzung nicht ähneln. Aber alle Initiativen haben verblüffend identische Züge: Die Protestteilnehmer sind nicht mehr die Jüngsten. 70 Prozent aller an den Studien beteiligten Personen sind älter als 45. Die 16- bis 25-Jährigen sind nur zu 1,1 Prozent als "Wutbürger" unterwegs. Vor 40 Jahren war das anders. Damals dominierten die 25- bis 40-Jährigen das Bild des Bürgeraufbegehrens.

Der Großteil der Protestierenden beschwert sich über die Qualität der Parteien. Dass diese politische Probleme lösen können, halten nahezu 80 Prozent der Untersuchungsgruppe für (eher) unmöglich. Unzufrieden mit der in Deutschland praktizierten Demokratie sind 68 Prozent. Sich selbst bezeichnen 96 Prozent dagegen als gute Demokraten. 80 Prozent fordern mehr Teilhabemöglichkeiten an der Demokratie, also Volksbegehren und Volksentscheid.

Doch nicht die Großprojekte, sondern vor allem spezielle Alltagsprobleme treiben Menschen auf die Straße. Dann aber möchten sie Entscheidungen nicht so sehr über plebiszitäre Elemente herbeigeführt sehen, sondern selbst als Betroffene Einflusskanäle im Gesetzgebungsverfahren nutzen.

Wutbürger werden Sozialphänomen bleiben

Denn die Studie zeigt, dass die Motive der Bürgerproteste nicht rundum selbstlos sind. Es geht eben nicht nur um Fledermäuse, Biotope oder alte Bäume. Über 90 Prozent der Wortführer gegen Flughafenausbau, Windräder und Oberleitungen seien nämlich Grundstückseigentümer und Hausbesitzer, so Walter. Da spiele der Immobilienwert wohl eine Rolle, wenn Stromleitungen oder hohe Windräder den Blick auf die Landschaft verstellen sollen oder Flugzeuge die Ruhe der Anwohner zu stören drohen.

Es fällt zudem auf, dass unter den Protestierern der Anteil von Unternehmern besonders hoch ist, wohingegen Arbeiter und Arbeitslose nur eine Randgruppe bilden. Ein anderer typischer "Wutbürger" ist der Studie zufolge der verrentete oder pensionierte Ingenieur. Er ist nicht fortschrittsfeindlich, präsentiert sich aber mit seinem Fachwissen, um Stromtransporttechniken, die sein Umfeld bedrohen, zu verhindern. Die Partei dieses sozial und materiell privilegierten Protests waren im Frühsommer 2011 mit großem Abstand die Grünen - vor den Freien Wähler. Die Volksparteien sehen dagegen alt aus. Im "Wutbürgertum" kommen SPD und Union nur auf je vier Prozent.

Sicher auf der Erfolgsspur dürfen sich die Grünen dennoch nicht fühlen, so Walter. Denn in dem zornigen Bürgertum sitze das Misstrauen gegen politische Einflussnahme und Gestaltungskraft generell tief. Deshalb werde die Spezies der "Wutbürger" allen Projektplanern in den nächsten Jahren wohl ein Sozialphänomen bleiben. Denn sie sei protesterfahren, hoch qualifiziert und kompetent. Mehr noch: Die "jungen Alten" hätten reichlich Zeit - und sie verträten handfeste, eigene Interessen. Eben das verleihe diesen Bewegungen ihre Schlagkraft.