Wieland John in der Göppinger Stadtkirche. Hier arbeitet er heute als Mesner. Foto: Gottfried Stoppel/Gottfried Stoppel

Wieland John war Familienvater und Banker, baute ein Häusle in Göppingen – und dann kam der Absturz. Mit dem Alkohol verlor er alles, lebte in Berlin auf der Straße und wäre fast gestorben. Doch dann kam die Rettung.

Seinen ersten Rausch hat Wieland John auf der Boller Heide. Mit 15 fahren die Jugendlichen aus Göppingen raus ins Grüne, sitzen am Grillplatz. In der Stadt ist nicht viel geboten. Mit dabei auf der Heide ist auch die Wilde Hilde, ein verrücktes Mädchen, jedes Mal bekifft. Es sind die 70er. Wieland John ist fasziniert von Hilde. Er würde sie gerne ansprechen, ist aber schüchtern. Hilde rennt zu einem dicken Baum, umarmt ihn und schreit, wie schön das sei! Wieland John probiert es mit dem Kiffen, aber er spürt nichts. Ein Kumpel hat zwei Gallonen Lambrusco dabei, John denkt: Dann eben das. Er fühlt, wie sich die Wärme in seinem Körper ausbreitet, wird locker, würde am liebsten auch den Baum umarmen und die Hilde gleich mit. Was für ein tolles Gefühl. Wie schön die Hilde ist!

 

Das ist das erste Mal, dass sich der Alkohol wie ein kleines Tier auf Wieland Johns Schulter setzt. Für John ist es, als spreche er zu ihm: Schau, ich helfe dir, wenn es schwierig wird – alles voll entspannt.

Als er den Job bei der Sparkasse kriegt, sagen Johns Eltern: Prima, des machsch!

In den 80ern ist Wieland John Banker, schafft bei der Kreissparkasse, jeden Tag in Anzug und Krawatte. Wer ihn heute sieht in der Göppinger Stadtkirche, kann das kaum glauben. John ist Anfang 60, arbeitet als Mesner der Kirche am Schlossplatz und trägt einen grauen Pulli mit Reißverschluss, ein spitzes weißes Bärtchen und praktische weite Hosen. Typ Sozialarbeiter.

Damals, als er den Job bei der Sparkasse kriegt, sagen Johns Eltern: Prima, des machsch, da hast du immer Geld. Eine nette Frau hat er auch bald. Seine Schwiegereltern geben ihr und ihrer Schwester Geld. Jetzt baut mal ein Häusle, jedes Paar eins. Wie man es eben macht. Ein Kind ist auch unterwegs. Im Bergfeld mit Blick über Göppingen und auf den Hohenstaufen legen Wieland John und seine Frau den Grundstein für ihr Leben. In Sichtweite steht das Göppinger Christophsbad, die psychiatrische Klinik – der Landerer, wie man hier sagt. Pass auf, sonsch kommsch zum Landerer! Dann holt dich des grüne Wägele! Außer diesen Sprüchen, die jedes Kind im Landkreis kennt, kann John mit der Klinik nichts anfangen.

Wenn es eine Achse für Zeit und eine für Raum gibt, steht dann unweigerlich fest, dass sich beide irgendwann berühren? Damals ahnt Wieland John nicht, dass er selbst im Christophsbad landen und Entgiftungen machen wird. In der Klinik hat jeder seine Rolle: der Kranke, der Besucher, der Therapeut, der Arzt, die Schwester. Durch die Tür kommt nur, wer sich als einer Gruppe zugehörig ausweist. Glücklich der, der sich immer sicher sein kann, auf welcher Seite er steht.

Der Stress nimmt zu, zu Hause fängt John an, Weinflaschen im Keller zu bunkern

Wieland John, der junge Familienvater, spürt, wie ihm das Hausprojekt im Nacken sitzt. Jeden Abend, jedes Wochenende schuftet er auf der Baustelle, alles wird immer teurer. Mit dem Schwager steht er im Rohbau, trinkt Weizenbier und fachsimpelt. Wer hat die Fußbodenheizung verlegt? Die Türzarge hast du falsch eingesetzt. Als der Schwager bei sich die Waschbecken auswählt, sagt Wieland Johns Frau: Wir nehmen teurere.

Das Einzige, was John jetzt hilft, ist ein kühles Bier. Es bleibt aber nicht bei einem Weizen mit dem Schwager. Und auch nicht bei dem Viertele mit der Frau zum Vesper. John spielt noch als Schlagzeuger in zwei Bands in Stuttgart, nach Feierabend, das bringt ein bisschen Geld. Da trinkt er mehr, nimmt Koks. Wie soll er das sonst alles schaffen? Zu Hause fängt John an, Weinflaschen im Keller zu bunkern, im Käschtle hinter den Schraubenziehern, wie er sagt. Als die Frau und er abends vor dem Fernseher sitzen, trinkt er nur ein Glas Wein, sagt aber immer öfter: Ich muss in der Werkstatt noch was machen. Dann trinkt er im Keller eine halbe Flasche, bald eine ganze. Irgendwann Chantré, Wodka, Jägermeister. Es geht um die Wirkung. Der Geschmack ist ihm egal.

Lange Zeit kann er das verbergen. Noch Jahre später sagen Freunde von damals: Der Willi isch doch ganz normal gwesa! Doch da ist der schon längst nach Berlin abgehauen und schläft mit Bananenkisten zugedeckt auf dem Kreuzberger Asphalt.

Zu jedem Zeitpunkt, sagt er heute, wusste er es, wusste, dass etwas nicht stimmt

Doch zuvor in Göppingen geht er weiter zur Sparkasse. Immer öfter fragt einer: Willi, alles okay? Aber es geht irgendwie, in der Mittagspause stiehlt er sich davon, zum Trinken. Manchmal schläft er bei der Arbeit ein. Dann kommt er morgens mal völlig blau ins Büro und wird wieder heimgeschickt. Eine Abmahnung folgt. Wieland Johns Frau und seine Schwiegereltern beginnen, etwas zu ahnen. Eines Abends geht die Frau in den Keller und findet die Flaschen. Sie schleppt ihn zur Suchtberatung. Dort sagt John: Das wird schon, ich habe es im Griff.

Zu jedem Zeitpunkt, sagt er heute, wusste er es. Wusste, dass etwas nicht stimmt. Aber er kann es damals einfach nicht wahrhaben. Er sitzt im Keller des Hauses im Bergfeld, oben schläft der kleine Sohn, die müde Frau räumt die Spülmaschine aus, und John nimmt schnelle Schlucke aus der Flasche. Dann denkt er nichts mehr. Auch nicht daran, wie es war, als er mit 15 von einem VW-Bus träumte, vom Zelten und Schlagzeugspielen, davon, Theologie zu studieren. Jetzt muss er funktionieren. Wie lange kann er das noch durchhalten? Und wie schmal ist das Seil, auf dem wir alle balancieren? Wer kann seine Hand dafür ins Feuer legen, nicht der Nächste zu sein, der hinabstürzt?

Er zittert und krampft, kann nicht mal seine Hose anziehen

Wieland Johns Frau packt die Möbel und den Sohn ein und zieht aus. John bleibt zurück mit nichts als einem Schlafsack und dem Fernseher. Sein Job ist längst weg. Mit dem bisschen Geld, das ihm bleibt, kauft er Wodka und jubelt, wenn er sechs neue Flaschen in die Küche räumen kann. Manchmal hat er noch klare Momente, will was erledigen, ruft bei der EnBW an. Als da nicht gleich einer rangeht, legt er auf. Die können mich mal. Nachts wacht er auf den Treppenstufen auf, am Kopf getrocknetes Blut. Er weiß nicht, wie er dort hingekommen ist, zittert und krampft, kann nicht mal seine Hose anziehen, muss sofort weitertrinken.

Und das hört einfach nicht auf. Als das Haus verkauft wird, geht John nach Berlin, er will bei einer Tante unterkommen. Doch die wirft ihn raus, er landet auf der Straße. Stürmt in einen Supermarkt, trinkt eine Flasche Wodka in der Gemüseabteilung und klaut drei. Eines Abends tut es einen Knall. In einem Akt tierischer Verzweiflung klaut und kauft Wieland John alles zusammen, was er kriegen kann, Tabletten, Drogen, Alkohol.

Und das ist das Ende. Oder der Anfang, könnte man behaupten. In der Charité sagen ihm die Ärzte: Wenn Sie es so wollen, sind Sie morgen tot, Sie müssen nur so weitermachen. Dann folgt der Moment, dem John heute eine magische, eine übermächtige Bedeutung beimisst, obwohl er sagt: Glaube ist ja jedem selbst überlassen. John betritt die Kirche neben der Charité und spricht den Pfarrer an. John fragt ihn: Warum bin ich noch da? Der Pfarrer antwortet: Weil du hier noch eine Aufgabe hast.

Und das ist natürlich nicht mehr als ein Satz. Der Rest ist Interpretationssache. John hat einen Sohn, er kriegt außerdem noch am selben Abend einen Anruf: Sein Vater sei verloren auf der B 10 herumgestiefelt, dessen Demenz weit vorangeschritten, er solle mal kommen und sich kümmern. Und dann sind da aus heutiger Sicht noch die Suchtkranken, denen John nun seit Jahren hilft, bei der Göppinger Anlaufstelle für Drogenabhängige, in Gesprächen und Vorträgen. War das die Aufgabe, von der der Pfarrer gesprochen hatte? Der Satz jedenfalls wirkt bis heute nach, sagt John, der arbeitet in ihm.

Das Problem war, sagt er, den ganzen Stuss wollte er ja gar nicht: das Haus, den Anzug und die Krawatte

Wenn die Suchtkranken zu ihm sagen: Mir geht’s nicht gut, dann weiß John, was sie meinen. Dass es nicht um einen Schnupfen geht. Vielen hat er geholfen. Aber er hat auch viele verloren. Ein Rückfall kann immer vorkommen. Schließlich schlummert irgendwo die Erinnerung an dieses gute Gefühl, bewusst oder unbewusst. Jeder hat so eine Wilde Hilde im Kopf. Damals, als er frisch zurück ist in Göppingen, hat auch Wieland John Rückfälle, macht Bekanntschaft mit dem Inneren des Christophsbads.

Erst als er ein Jahr lang auf einem Bauernhof bei Ravensburg lebt, mit zwei Therapeuten und einem Pfarrer, findet er Erlösung. Heute, wenn er die Kerzen in der Göppinger Stadtkirche anzündet, glaubt er, das Problem war: Den ganzen Stuss wollte er ja gar nicht. Das Haus, den Anzug, die Krawatte. Als sich Wieland John vor einigen Jahren wieder verliebt hat, sagte er zu der Frau: Ich will mit dir mal auf einer Bank an der Nordsee sitzen. Diesen Sommer dann hat auch das geklappt.