Kurt Rahmer und Elfriede Weihmaier in Göppingen-Lenglingen sind ein gut eingespieltes Team. Foto: Horst Rudel

Weil die Mutter das geistig behinderte Kind abgab, wuchs der Sohn im Heim auf – seit mehr als 50 Jahren ist nun ein Bauernhof sein Zuhause.

Göppingen - Im Ort ist er kein Unbekannter. Regelmäßig geht Kurt Rahmer im Göppinger Teilort Lenglingen spazieren oder er sitzt auf einem Stuhl vor dem Backsteingebäude des Bauernhofes an der Durchfahrtsstraße des kleinen Ortes. Gerne beobachtet er vorbeifahrende Autos oder unterhält sich mit Passanten. Der geistig behinderte 73-Jährige ist integriert im Ort und in der Familie Weihmaier, die ihn in Zusammenarbeit mit der Diakonie Stetten (Rems-Murr-Kreis) seit mehr als 50 Jahren betreut und ihm ein Zuhause bietet.

Die Mutter gab das behinderte Kind ab

Kurt Rahmer wurde in schwierige Familienverhältnisse hineingeboren. Seine Mutter gab das behinderte Kind ab. Der Junge wuchs im Kinderheim auf, ging bis zu seinem 16. Lebensjahr in Stetten zur Schule und arbeitete anschließend in einer Gärtnerei. Mit 23 Jahren zog er nach Lenglingen. Damals war Elfriede Weihmaier elf Jahre alt. Sie ist mit Rahmer aufgewachsen. Heute kümmert sie sich um ihn.

Warum sich ihr Leben und das von Kurt Rahmer vor vielen Jahren kreuzten, darüber verliert die 61-Jährige beim Gespräch am Esstisch im heimeligen Wohnzimmer nicht viele Worte. Verwandtschaftliche Beziehungen bestehen nicht. Die Eltern hätten eben gerne noch jemanden auf dem Hof gehabt. Vielleicht sei es auch christliche Nächstenliebe gewesen, die ihre Eltern dazu bewogen hätten, den Mann aufzunehmen. Vielleicht war es auch das Vorbild anderer Familien im Bekanntenkreis, die einen Menschen mit geistiger Behinderung aufgenommen hätten.

Früher gab es noch viel Arbeit auf dem Bauernhof

Der junge Mann hat zunächst auf dem Bauernhof der Weihmaiers mitgeholfen. Im Vergleich zu heute gab es viele Arbeiten, die von Hand erledigt werden mussten. „Er hat im Stall mitgearbeitet und die Pferde versorgt“, erinnert sich Elfriede Weihmaier. Außerdem habe er die Hühner gefüttert, die Kühe geputzt, Holz getragen und die Bienen versorgt. Inzwischen wird auf dem Bauernhof aber keine erwerbsmäßige Land- und Viehwirtschaft mehr betrieben und Kurt Rahmer ist heute Rentner. Früher sei es einfacher gewesen, Menschen mit einer geistigen Behinderung in Familien zu vermitteln, berichtet Erhard Beck, der Bereichsleiter des Betreuten Wohnens in Familien der Diakonie Stetten. Und es habe mehr Bauernhöfe gegeben, die Menschen wie Rahmer auch eine Arbeit bieten konnten. Wegen der zunehmenden Mechanisierung in der Landwirtschaft seien diese Aufgaben auf den meisten Höfen weggefallen.

Die Alternative sei das Wohnen in einem Heim und das Arbeiten in einer Behindertenwerksatt. Außerdem hätten sich die Familienstrukturen verändert, Großfamilien würden seltener, zählt Beck auf. Hinzu komme, dass der Arbeitsplatz nur noch selten am Wohnort liegt. Dies alles erschwere die Aufnahme eines geistig behinderten Menschen in einer Familie.

„Wir bekommen zu wenig Anfragen“, sagt Beck. Und selbst, wenn sich jemand für die Aufnahme eines geistig behinderten Menschen interessiere, müsse gut geprüft werden, wer zu wem passen könnte, erklärt er. Wenn alle Fragen geklärt seien, stehe zunächst ein 14-tägiges Probewohnen an.

Die Diakonie Stetten betreut 90 Pflegefamilien

In ganz Baden-Württemberg betreut die Diakonie Stetten rund 90 Familien wie die Weihmaiers. Alle vier Wochen stattet ein Mitarbeiter aus einem neunköpfigen Team den Familien einen Besuch ab. Dabei kann auch Rat zu schwierigen Themen eingeholt werden, denn das Zusammenleben ist nicht immer konfliktfrei. Oft geht es um Geldfragen, Sozialrechtliches sowie den Umgang mit Alkohol oder Zigaretten.

Zwischen den Eheleuten Elfriede und Dieter Weihmaier (68) sowie Kurt Rahmer gebe es aber keine Reibereien. Stattdessen sei er für die ganze Familie eine Bereicherung. Kurt Rahmer sei völlig ins Familienleben eingebunden. Gerne unternähmen sie gemeinsame Ausflüge – an den Bodensee oder zum Eisessen. Außerdem male Rahmer Bilder, bastle bunte Perlenketten oder knacke Nüsse, berichtet die Hauswirtschaftsmeisterin. Und manchmal möchte Rahmer auch einfach nur ein wenig Ruhe genießen, etwa beim Mittagschlaf oder beim Verweilen vor dem Haus mit dem Blick über den Hof auf die Straße.