Gerhard Müller-Schwefe nimmt sich für seine Patienten Zeit. Foto: Thomas Rathay

Der bekannte Schmerzspezialist Gerhard Müller-Schwefe hat sein Ehrenamt als Präsident der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin abgegeben, an seinen Zielen aber hält er fest.

Göppingen - Er setzt sich seit 25 Jahren für eine bessere Therapie für Schmerzpatienten in Deutschland ein, betreibt ein eigenes Schmerzzentrum in Göppingen und ist nebenbei auch noch Familienvater. Künftig will Gerhard Müller-Schwefe ein bisschen kürzer treten. Aber nicht zu sehr.

Herr Müller-Schwefe, Sie waren 21 Jahre lang, bis zum Anfang dieses Monats, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin. Jetzt haben Sie dieses Ehrenamt abgegeben. Benötigt die Schmerzmedizin keine Vorkämpfer mehr?
Oh doch, und wie. Aber ich bin jetzt etwas über 68 Jahre alt und seit 42 Jahren Arzt. Ich habe mich daneben noch 25 Jahre lang für die Gesellschaft engagiert, vier Jahre lang als Vizepräsident und dann 21 Jahre als Präsident. Ich finde, jetzt braucht es auch mal wieder frisches Blut an der Spitze und neue Idee. Meine Kollegen haben mich zwar gebeten, noch weiter zu machen, aber ich verschwinde ja nicht aus der Welt. Man hat mich freundlicherweise zum Ehrenpräsidenten ernannt, ich bleibe im Vorstand, leite den Ethikrat der Gesellschaft und andere einzelne Projekte.
Das hört sich nun wirklich nicht wie ein Abschied an. 
Eben. Aber ich stehe jetzt nicht mehr an vorderster Front und muss nicht mehr alles selbst machen. Das war Knochenarbeit, und es war eine Gratwanderung, die Arbeit für die Gesellschaft, meine eigene Praxis und die Familie unter einen Hut zu bringen. Da dürfen jetzt mal andere ran.
Welche Probleme haben eigentlich dazu geführt, dass Sie sich seit den 80er Jahren für die Schmerzforschung und -therapie engagieren?
Als ich anfing, war das Häufigste, was man zum Thema Schmertherapie zu hören bekam, dass es „Schmerzpatienten“ eigentlich gar nicht gebe. Sie seien eine Erfindung der Anästhesisten. Inzwischen ist es Allgemeingut, dass Schmerzen ein Riesenproblem sind, das Menschen aus dem normalen Leben herauskegelt. Es ist inzwischen anerkannt, dass das ein gesellschaftliches Problem ist und dass wir adäquate Therapien für diese Patienten brauchen. Da hat sich tatsächlich viel getan.
Sie hatten einen gewissen Anteil daran, dass sich die Schmerztherapie in den vergangenen 20 Jahren verändert hat. . .
Ja. Unter anderem habe ich im Lauf der Jahre mehr als 60 Sozialgerichtsprozesse geführt, um klar zu machen, was die Patienten brauchen, und dafür zu sorgen, dass sie es auch bekommen.
Zum Beispiel?
Früher hieß es zum Beispiel, dass Anästhesieverfahren nicht angewendet dürfen, nur um Schmerzen zu reduzieren, sondern allein, wenn eine Operation ansteht. Heute ist es Standard zum Beispiel bei Gürtelrose-Patienten, die enormen Schmerzen durch eine Blockierung der Rückenmarksnerven zu unterbrechen. Damit wird verhindert, dass sich im Körper ein sogenanntes Schmerzgedächtnis bildet und der Patient die Schmerzen am Ende nicht mehr los wird – auch wenn die eigentliche Erkrankung überstanden ist. Oder die Schmerzkonferenzen und -konzile, bei denen Mediziner unterschiedlicher Fachrichtungen, Psychologen und Physiotherapeuten die Patienten gemeinsam befragen, untersuchen und sich dann austauschen und die richtige Therapie festlegen. Die sind heute Pflicht in der qualifizierten Schmerzmedizin. Das mussten wir vor dem Bundessozialgericht erstreiten.
Na, dann können Sie sich doch jetzt beruhigt zurücklehnen.
Leider gibt es noch einiges, das in der Schmerzmedizin dringend benötigt wird.
Was denn?
Schmerzpatienten zu behandeln ist kompliziert. Es braucht Zeit, Gespräche und häufig verschiedene Ansätze. Doch die „sprechende Medizin“ wird bekanntlich nicht sehr gut honoriert. Deshalb gibt es auch viel zu wenig Nachwuchs. Allein im vergangenen Jahr mussten sieben Schmerzzentren, die Mitglied in unserer Gesellschaft waren, geschlossen werden, weil die Betreiber keine Nachfolger fanden. Außerdem hängt es nach wie vor vom Zufall ab, ob Patienten gut versorgt werden. Viele müssen hundert Kilometer und mehr fahren, um zu einem richtigen Schmerzmediziner zu kommen.
Warum das?
Weil die Schmerzmedizin nicht als Fachrichtung sondern als Zusatzqualifikation gilt. Für Ärzte der verschiedenen Fachrichtungen macht die Kassenärztliche Vereinigung eine Bedarfsplanung und schaut, wo wie viele Ärzte welcher Fachrichtung benötigt werden, damit die Bevölkerung möglichst ausreichend versorgt ist. Entsprechend dieser Planung vergibt sie die Arztsitze. Für Schmerzmediziner gibt es das aber nicht. Es hängt allein vom Zufall ab, ob sich in der Nähe eines Patienten ein Hausarzt, Orthopäde oder Internist mit der Zusatzqualifikation Schmerzmedizin niedergelassen hat – und dann ist noch die Frage, wie sehr er sich in diesem Bereich engagiert. Es wird Zeit, dass die Schmerzmedizin als eigene medizinische Fachrichtung anerkannt wird.
Wie ist das mit Ihrer eigenen Praxis?
Ich bin Allgemeinmediziner und Anästhesist, habe mich aber komplett auf die Schmerzmedizin konzentriert. Denn der Bedarf ist riesig. Unsere Warteliste ist sehr lang, akute Fälle, etwa Patienten mit Gürtelrose oder Krebs, kommen natürlich sofort dran, aber die anderen Patienten brauchen oft viel Geduld, zumal sich auch Patienten aus dem europäischen Ausland und den USA an uns wenden, denn auch dort ist die Versorgung zum Teil nicht so gut. Wenn ich meine Praxis eines Tages aufgebe, dann geht sie an einen Allgemeinmediziner. Ob der sich dann ebenfalls auf die Schmerzmedizin konzentriert, steht in den Sternen.
Da werden wohl viele Patienten Daumen drücken, dass Sie noch lange in Göppingen praktizieren.
Tatsächlich will ich noch mindestens 20 Jahre lang weiterarbeiten. In meiner Familie sind viele über hundert Jahre alt geworden. Die Chancen stehen also gut. Ich finde, die Medizin muss sich nach den Patientenbedürfnissen richten und nicht umgekehrt. Vielleicht bleibe ich ja lange genug dabei, um das noch mitzuerleben.