Die Männer posierten bei der 80-Jahr-Feier der Turnerschaft im adretten Vereinsdress vor dem Mörikegymnasium. Die Frauen und Mädchen trugen Kleider und Röcke. Foto: privat

Die Turnerschaft feiert ihren 175. Geburtstag. Gegründet wurde der Verein im Jahr 1844, denn der Maientag sollte mit „männlichen Vorführungen“ bereichert werden. Mittlerweile stehen der Breiten- und der Gesundheitssport im Fokus.

Göppingen - Das Jahr 1844: In Württemberg herrscht König Wilhelm I., und in Washington wird die erste Nachricht per Morsezeichen über eine Distanz von 60 Kilometer verschickt – eine technische Revolution. In diese Zeit fällt die Gründung der Männer-Turngemeinde Göppingen. Es ist der erste Turnverein im Kreis und einer der ältesten im Land. Auch das ist eine kleine Revolution, denn zwei Jahre zuvor herrschte im Gebiet des Deutschen Bundes noch ein striktes Turnverbot. Die Turner waren der Obrigkeit suspekt, denn die Turnbewegung hatte sich nicht nur der körperlichen Ertüchtigung verschrieben, sondern strebte auch einen deutschen Nationalstaat an.

Inzwischen ist die Monarchie längst passé, zwei Weltkriege haben Europa erschüttert, es herrscht Demokratie, und Morsezeichen entlocken Smartphone-verwöhnten Zeitgenossen nur ein müdes Lächeln. Aber die Turnerschaft Göppingen, wie der Verein nun heißt, hat dies alles überdauert, und befindet sich zu ihrem 175. Geburtstag wieder im Aufwind. „Wir haben inzwischen wieder rund 1400 Mitglieder, vor ein paar Jahren waren wir mit 1300 auf dem Tiefstand“, zieht Hans-Dieter Mayer Bilanz und merkt selbstkritisch an: „Wir hatten aber auch schon mehr.“

Zeiten für den Verein sind schwierig

Trotz der steigenden Mitgliederzahlen verfällt der Vorsitzende der Turnerschaft nicht in Euphorie. Die Zeiten für Vereine seien schwierig, die Gesellschaft habe sich sehr verändert, klagt er. Noch vor wenigen Jahrzehnten sei es selbstverständlich gewesen, sich einem Verein anzuschließen und ein Leben lang dabeizubleiben. Heute sei das Freizeitangebot für Jugendliche so groß, dass sie nicht mehr zu halten seien, „wenn sie etwas anderes für sich entdecken“.

Hans-Dieter Mayer ist 1967 zur Turnerschaft gekommen. Seine Klassenkameraden nahmen den damals 16-Jährigen mit zum Training. Leichtathletik war seine Stärke. Der spätere Sport- und Englischlehrer war nicht nur selbst sportlich erfolgreich, er engagierte sich auch als Trainer im Verein – und er war es, der Michael Kohnle entdeckte, der als Zehnkämpfer einen Erfolg nach dem anderen einheimste. Nicht nur Kohnle ging aus der Turnerschaft hervor. Im Jahr 1938 wurde der Torwart Karl Herbolzheimer – Spitzname: „Der Mann mit den 1000 Händen“ – mit der deutschen Handballnationalmannschaft Weltmeister. Auch Wolfgang Reinhardt, der 1964 bei den Olympischen Spielen in Tokio im Stabhochsprung Silber holte, ist ein Gewächs des Vereins. In der jüngeren Vergangenheit machte die Turnerschaft durch den Handballspieler Michael „Mimi“ Kraus von sich reden.

Traum von einem Sportpark im Reusch

Stand früher der Leistungssport im Vordergrund, liegt nun der Schwerpunkt zunehmend auf dem Breiten- und Gesundheitssport, wie Hans-Dieter Mayer sagt. Anstelle des Wettbewerbs gehe es nun vorwiegend um ein Gemeinschaftserlebnis, wie etwa in der Männerriege für jene Mitglieder, die am Ende ihrer aktiven Zeit als Sportler angelangt sind.

Nicht nur ein attraktives Angebot – die Palette reicht vom Aikido über Budo, Fechten, Basketball, Handball und Leichtathletik über Gesundheits- und Präventionssport bis hin zum Kinder- und Jugendsport – ist entscheidend für die Zukunft des Vereins. Auch Geld spielt eine Rolle. „Wir leben von Mitgliedsbeiträgen und Spenden, große Sprünge können wir nicht machen“, sagt Hans-Dieter Mayer mit bedauerndem Blick auf die in die Jahre gekommene Sportanlage. „Wir sind überfordert, das alles in Schuss zu halten.“ Die Turnerschaftler träumen von einem Sportpark im Reusch. Doch dafür müsste ein siebenstelliger Betrag eingesetzt werden. „Wir können das nicht alleine stemmen.“ Deshalb sollen Sponsoren und mögliche Kooperationspartner gesucht werden. Denn eins steht für den Vorsitzenden fest: „Neue Anlagen ziehen neue Mitglieder an, wir müssen uns neu aufstellen.“

Immer offen für Neues

Ein Blick zurück beweist, dass es nicht die erste Herausforderung ist, der sich der Verein stellen muss. Ludwig Schaller, Carl Kallenberg und Ludwig Munk gründeten die Turngemeinde zunächst, um den Maientag, seit 1650 das Göppinger Volksfest per se, mit „männlichen Spielen“ zu bereichern. Damals war die Turngemeinde den Männern vorbehalten und zudem eine Hochburg des Bürgertums. Entsprechend waren Konflikte programmiert. 1888 erkämpften sich die Frauen ein Existenzrecht im Verein, aus der Männer-Turngemeinde wurde schlicht die Turngemeinde. 1894 spalteten sich Mitglieder aus der Arbeiterschaft ab und gründeten den Turnerbund. Zwei Jahre später gingen die Vorturner eigene Wege und riefen Frisch Auf ins Leben. „Alle drei Vereine waren leistungsfähig und lieferten sich sportlich hochkarätige Duelle“, erzählt Hans-Dieter Mayer. 1937 kam es zu einer vorläufig letzten großen Weichenstellung. Auf Anweisung der Nazis wurden die Turngemeinde und der Turnerbund zur Turnerschaft Göppingen zusammengeschweißt.

So sehr die Politik immer wieder in das Vereinsleben hereinspielte, die Turnerschaft legt Wert auf weltanschauliche und politische Neutralität. „Wir haben sehr viele Ausländer im Verein. Im Vordergrund steht die integrative Kraft des Sports“, stellt Hans-Dieter Mayer klar. So denke man über die Gründung einer Cricket-Abteilung nach – für Migranten aus Pakistan, die sich in der Turnerschaft engagieren und daran interessiert sind.