Herrn G. meldete seine App „Verspätungen, Ausfälle und Teilausfälle“ auf so gut wie allen Linien. Foto: Lichtgut/Max Kovalenko

Die Mobilitätswende erfasst nicht nur den VVS. Herr G. ist Teil der Revolution.

Böblingen - Die Nachbarn wunderten sich, dass Herr G. über Nacht gewachsen zu sein schien. Es war das Bewusstsein, Teil des ganz großen Ganzen zu sein, das seine Schultern straffte, seinen Brustkorb wölbte, ihn sogar jünger wirken ließ. Das war am 1. April, dem Tag der Revolution, nicht ganz von der Tragweite der Wiedervereinigung vielleicht, aber für Herrn G. fühlte es sich so an. Er war Teil der Mobilitätswende. Er hatte seinen alten Diesel verkauft, nicht zu dem Preis, den er erhofft hatte, aber er war bereit, Opfer zu bringen. Zudem ahnte er, dass unsere osteuropäischen Nachbarn, mithin seine Käufer, nicht über die finanziellen Möglichkeiten des Durchschnittsdeutschen verfügten.

Und das Diesel-Fahrverbot war nur die halbe Revolution. Nach 40 Jahren des Verharrens – seit Herrn G.s glücklichen Kindheitstagen – hatte sie den VVS erfasst. Herr G. musste auf dem Weg von Stuttgart nach Böblingen keine vier Tarifzonen mehr durchfahren. Es waren drei. So stand er lässig am Bahnsteig, die Monatskarte zeitgemäß auf der VVS-App, als Unruhe ausbrach. Wartende zückten ihre Handys, einige hasteten die Treppe hinunter. Herr G. stellte fest, dass die S-Bahn nach Herrenberg vor zwei Minuten hätte auf Gleis fünf einfahren müssen. Die Unruhe griff auf ihn über, weil die Anzeigetafel die Einfahrt des Zugs nach Plochingen ankündigte. Hatte die Bahn am Tag der Revolution zwei Züge auf Kollisionskurs geschickt? Seine Furcht zerstob, weil die Anzeigetafel auf Gleis drei informierte, dass heute ausnahmslos alle S-Bahnen am Gleis fünf fahren würden.

Die Bahn kam nur zehn Minuten zu spät und hielt nur zweimal außerplanmäßig. Herr G. begrüßte seine Kollegen nur eine halbe Stunde später als üblich. Ihm fehlten Erfahrungen mit Revolutionen, aber er glaubte, dieser Tribut sei der kleinste, den sie forderten. Nachdem Herr G. eine halbe Stunde länger gearbeitet hatte als sonst, war in seiner VVS-App die S-Bahn um 17.15 Uhr gestrichen. Er vertrödelte eine Viertelstunde im Geiste der Revolution. Die Bahn um 17.30 Uhr kam schon um 17.34 Uhr. Herr G. gedachte, in der Stadtmitte Station zu machen auf ein Bier in der Abendsonne oder zwei. Noch so ein Segen: Um Promillegrenzen musste er sich nicht scheren. Der Lokführer informierte, dass die S-Bahn in der Stadtmitte nicht halten werde, sondern erst im Hauptbahnhof. Wieder griff die gleiche Unruhe um sich wie am Morgen. Herr G. lehnte lässig an der Wand. Von jedem Hauptbahnhof der Welt aus würde ein Zug ihn ganz gleich wohin bringen.

Er zückte sein Handy, um die Vielfalt der Möglichkeiten zu checken. Seine App meldete „Verspätungen, Ausfälle und Teilausfälle“ auf so gut wie allen Linien. Der Spaziergang zum Wirt seiner Wahl tat Herrn G. nur gut, aber dann schmeckte das Bier nicht so, die Sonne schien nicht so, wie er es sich vorgestellt hatte. Herr G. zahlte. Seine Tischnachbarn lästerten, wie läppische zwei Bier den Mann hatten schrumpfen, ja sogar altern lassen, der gerade ins Taxi stieg.