Wikpedia ist nur eine von vielen digitalen Informationsquellen. Foto: Mauritius

Informationen sind heute überall und jederzeit erhältlich – und ihre Menge wird immer größer. Das führt nicht zwangsläufig zu größerem Wissen.

Stuttgart - Der Wikipedia-Artikel über den Unkrautvertilger Glyphosat hat knapp 120 000 Zeichen, das entspricht dem Mindestumfang eines Romans, der in die zur Frankfurter Buchmesse aufgestellte Bestenliste der Fantastik-Romane aufgenommen werden möchte. Das Informationsproblem quillt ungelöst aus den Fugen der digitalen Welt. Genauer gesagt die Tatsache, dass überdosierte Information keinen Wissenszuwachs darstellt.

Am Beispiel der im Jahr 2010 von der Enthüllungsplattform Wikileaks veröffentlichten Iraq War Logs – es handelt sich um 391 832 geheime Berichte aus fünf Jahren Irakkrieg – waren die heroischen Bemühungen der neu auf den Plan getretenen Datenjournalisten erkennbar, die Informationsflut zu kanalisieren. Auch für die Glyphosat-Wissenslawine gäbe es Lösungen – etwa die Skalierung durch einen Schieberegler, mit dem sich die Detailtiefe eines Artikels regeln ließe. Der klassische Print-Zeitungsartikel ist das Vorbild für die digitale Skalierung. Im Titel steht, was der Vorspann noch mal umreißt, was sich im ersten Absatz ein weiteres Mal wiederholt, diesmal einzelheitengetreuer, um schließlich in einer erneuten Redundanzrunde komplett stattzufinden.

Ornamentiertes Blabla

Die Produktion von ornamentiertem Blabla wurde lange als Vorrecht gehobener Gesellschaftsschichten angesehen. Der britische Viscount George Joachim Goschen brachte es 1894 so zum Ausdruck: „Manchmal scheint es, als ob die moderne Welt an ihrer eigenen Fülle erstickt. Die Texte in den vierteljährlichen Magazinen reichen oft über 30 Seiten, aber 30 Seiten sind nun zu viel. Also werden wir Zeugen eines Schrumpfungsprozesses, der jeweils 30 Seiten auf 15 reduziert, so dass man eine größere Anzahl von Texten in einem kürzeren Zeitraum und in kürzerer Form lesen kann.

Die komprimierten Texte dieser Publikationen werden von Tageszeitungen neuerlich komprimiert, die einem eine Kurzfassung der Kurzfassung von allem geben, das über alles geschrieben worden ist. Diejenigen, die an so vielen Themen nur nippen, verlieren die Fertigkeit, große Werke zu unternehmen. Eiliges Lesen kann niemals gutes Lesen sein.“ Goschen, der auch drei Jahre lang als britischer Marineminister amtierte, verdanken wir übrigens auch die virtuose volkstümliche Kompaktinformation „Mr. Goschen has no notion of the motion of the ocean“.

3000 Briefe an die Schwester

Wer übrigens glaubt, das Schreiben sei früher beschaulich gewesen, sollte mal einen Blick auf die britische Schriftstellerin Jane Austen werfen, die, während sie zu Anfang des 19. Jahrhunderts in London lebte, mehr als 3000 Briefe an ihre Schwester Cassandra schrieb. Man sollte nicht denken, dass die Post damals langsam war: Die Schwestern korrespondierten ständig. In dem Augenblick, in dem eine einen Brief fertig geschrieben hatte, begann sie bereits den nächsten zu schreiben. Sie teilten jede Minute ihres Lebens miteinander. Zu Lebzeiten von Austen wurde in London sechsmal pro Tag Post zugestellt. Manchmal kam ein Brief, der am Morgen abgeschickt worden war, bereits am Abend an.

Soll also niemand meinen, dass die Vielschreiberei und journalistische Gegenwartssucht Phänomene sind, die erst heute zum Vorschein kommen. Einer der exzessivsten Proto-Blogger war der amerikanische Architekt Buckminster Fuller, der sein Leben in einer unglaublichen Ausführlichkeit dokumentiert hat. Von 1915 an schrieb er 68 Jahre lang im Wachzustand alle 15 Minuten einen Eintrag in ein Journal. Als Fuller am 1. Juli 1983 starb, hinterließ er 80 laufende Meter an Notizbüchern. Ein Biograf nannte ihn den „Mann ohne Rätsel“.