Tanja Gönner hält es für richtig, dass die Afghanistanpolitik in einer Enquete-Kommission aufgearbeitet wird. Foto: Thomas Imo//photothek.net

Deutschlands oberste Entwicklungshelferin Tanja Gönner spricht von einer „katastrophalen Situation in Afghanistan“. Ein Comeback in die Politik schließt die frühere Landesumweltministerin aus. Im Interview verrät sie, warum sie der Heimat aber immer treu geblieben ist.

Eschborn - Seit fast zehn Jahren leitet Tanja Gönner die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) und ist Chefin von rund 25 000 Beschäftigten. Noch nie seien so viele Hilfsgelder geflossen wie in Zeiten der Pandemie, sagt die Juristin.

 

Sie sind Deutschlands wichtigste Entwicklungshelferin. Können Sie die Welt ein bisschen verbessern?

Ja, das ist unsere Vision. Wir machen die Welt an unterschiedlichen Stellen ein kleines Stück besser, das treibt uns an. Wir haben den Vorteil, in einer stabilen Demokratie zu leben, das ist in vielen Ländern anders.

Wo gelingt das am besten?

Es gibt viele Beispiele. Das kann die Unterstützung von Kleinbäuerinnen sein, die Molkereiprodukte gemeinsam vermarkten bis hin zur Entwicklung eines integrierten Verkehrskonzepts in Mexiko City.

Macht nicht der Klimawandel, der Dürre und Überschwemmungen bringt, einen Großteil der Bemühungen zunichte?

Der Klimawandel ist eine riesige Herausforderung. Die Eismassen schmelzen, der Meeresspiegel steigt, auch die Ausbreitung der Wüsten ist erschreckend. Das ist ein Wettlauf mit der Zeit. Es gibt aber auch Hoffnung: In Vietnam kann an den Küsten durch die Aufforstung von Mangroven-Wäldern verhindert werden, dass das Meer den fruchtbaren Boden wegschwemmt.

Jeden Tag sterben weltweit 14 000 Kinder, bevor sie fünf Jahre alt werden. Es gelingt nicht einmal, ihr Überleben zu sichern. Was läuft da schief?

In der Tat ist die Kindersterblichkeit immer noch sehr hoch. Aber das wollen wir ändern. Wir sind zum Beispiel trotz des Bürgerkriegs weiterhin im Jemen im Einsatz, um den Hunger zu lindern. Wir wollen sicherstellen, dass Menschen Zugang zu Gesundheits- und Wasserversorgung haben und Möglichkeiten, ihre Familie zu ernähren.

Wird Deutschland, eines der größten Geberländer, seiner Vorbildfunktion gerecht? Ministerin Svenja Schulze beklagt die „dramatische Unterfinanzierung“ der Entwicklungspolitik.

Die Industrienationen haben sich verpflichtet, mindestens 0,7 Prozent ihres Bruttoinlandsproduktes für die Entwicklungszusammenarbeit bereitzustellen. Das steht im Koalitionsvertrag genau so drin, deshalb erhebt die Ministerin ihre Stimme. Ihr Vorgänger Gerd Müller hat dies auch gemacht und hat den Haushalt in seiner Amtszeit verdoppelt.

Alarmierend ist die Situation in Afghanistan. Nach UN-Angaben hat mehr als die Hälfte der Menschen dort nicht genug zu essen. Steuert das Land auf eine humanitäre Katastrophe zu?

Ja, die Situation ist katastrophal. Das berührt mich persönlich sehr, ich war mehrere Male in Afghanistan und habe mein Herz an das Land verloren. Für den Westen ist es ein Dilemma. Wir wollen helfen, aber nicht den Taliban. Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen federt mit seiner Ausweitung der Hilfe immerhin einiges ab.

Die deutsche Entwicklungshilfe wurde dort ausgesetzt. Ist das ein Fehler?

Es war die richtige Entscheidung. Jetzt müssen wir sehen, unter welchen Rahmenbedingungen die Hilfe wieder starten kann. Wichtig ist die Beteiligung von Frauen an den Programmen. Sie sollten auch wieder arbeiten gehen dürfen. Neulich war eine Taliban-Delegation zu ersten Gesprächen in Oslo, jetzt geht es primär um Diplomatie. Wenn die Grundvoraussetzungen geklärt sind, stehen wir als Bundesunternehmen bereit, das ist unser Auftrag.

Jahrzehntelang hing Afghanistan am internationalen Tropf. Auch die Bundesrepublik hat am Hindukusch so viel Hilfe geleistet wie nirgendwo sonst in der Welt. Und keine Organisation hat dafür mehr Gelder erhalten als die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit. Hat die GIZ Mitschuld am Kollaps des Regimes?

Nein. Natürlich haben wir an bestimmten Stellen auch mit den staatlichen Akteuren zusammengearbeitet. Man muss wissen, dass die Bundesregierung mit keinem Land so häufig Regierungsverhandlungen geführt hat wie mit Afghanistan. Es wurde Einfluss genommen auf die politischen Konstellationen. Wir haben die bilateralen Vereinbarungen dann umgesetzt. Aufgearbeitet werden soll die Afghanistanpolitik in einer Enquete-Kommission im Bundestag und das ist gut so.

Die Korruption hatte das Regime zerfressen. Bestechlichkeit und mafiöse Vetternwirtschaft wurde von den Geberländern geduldet. Bei Bauaufträgen kamen Unternehmer zum Zug, die ihrerseits Subunternehmer begünstigt haben. Wie lässt sich so etwas stoppen?

Diese Frage hat uns auch beschäftigt. Es gab viele Bauvorhaben, deren Abwicklung war immer eine große Herausforderung. Wäre es gelungen, das ausschließlich mit Externen zu machen? Da warne ich vor übersteigerten Erwartungen.

Vor einem halben Jahr haben die Taliban die Macht ergriffen. Bis heute warten Ortskräfte auf ihre Ausreise. Werden noch GIZ-Mitarbeiter evakuiert?

Auf jeden Fall, es kommen weiterhin Kollegen raus. Wir unterstützen die Bundesregierung auch bei der Evakuierung afghanischer Ortskräfte anderer Organisationen. Die GIZ kümmert sich um Landtransporte und Charterflüge, wir vereinbaren Termine für die Ausstellung von Visa. Bislang haben wir rund 7500 Afghaninnen und Afghanen bei der Aus- beziehungsweise Weiterreise geholfen.

Was ist mit jenen, die nicht direkt bei der GIZ beschäftigt waren. Gibt es nicht eine Schutzpflicht gegenüber Personen, die im deutschen Auftrag in Afghanistan tätig waren?

Die Kriterien für das sogenannte Ortskräfteverfahren und damit auch den Kreis der Personen mit Zugang zum Verfahren definiert die Bundesregierung. Wir unterstützen alle Afghaninnen und Afghanen, die eine Aufnahmezusage von der Bundesregierung haben, bei der Aus- und Weiterreise.

Wie wirkt sich die Pandemie auf die Entwicklungshilfe aus?

Deutschland ist eines der wenigen Länder, das in der Pandemie seine Hilfsgelder aufgestockt hat. Das hat sich auch auf die GIZ ausgewirkt: Unser Geschäftsvolumen lag im Jahr 2020 bei 3,3 Milliarden Euro, für 2021 gehen wir aktuell von rund 3,7 Milliarden Euro aus. So viel Geld hatten wir noch nie für Entwicklungszusammenarbeit zur Verfügung. Wir konnten unsere Partnerländer dabei unterstützen, das Virus einzudämmen. Da ging es um Hygienemaßnahmen, Informationskampagnen und verbesserte Behandlungsmöglichkeiten. Die Schnell Einsetzbare Expertengruppe Gesundheit war in rund 20 Ländern, um eine Testinfrastruktur aufzubauen.

Ist der Kampf gegen Armut angesichts von Corona ins Abseits geraten?

Es gibt Rückschritte von bis zu zehn Jahren in einzelnen Ländern. Die Anzahl der Hungernden ist deutlich gestiegen. Wenn Sie auf den afrikanischen Kontinent schauen, sind die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie oft das Schlimmste. Das Leben wird teurer, es fehlen Arbeitsplätze, die Armut steigt und damit der Hunger.

Sie stehen seit fast zehn Jahre an der Spitze der GIZ. Hat Sie ein Comeback in die Politik nie gereizt?

Nein, überhaupt nicht. Ich habe unglaublich viel Freude an meiner Arbeit. Erfreut hat mich auch, dass die baden-württembergische CDU beim Thema Klimaschutz einen großen Schritt nach vorn gemacht hat. In meiner Zeit als Umweltministerin war mir die Energiewende immer wichtig, vieles ließ sich damals nicht umsetzen.

Sie pendeln an den Wochenenden von Eschborn oder Berlin nach Bingen im Landkreis Sigmaringen. Wie schlagen Sie die Brücke zwischen den Krisen der Welt und der schwäbischen Heimat?

Ich schätze die Zurückgezogenheit. Die Heimat gibt mir die Kraft, um mich jede Woche in die Krisen der Welt stürzen zu können.