Gisela Mayer Foto: AP

Was macht einen 17-Jährigen zum Mörder, fragt Gisela Mayer - sie hat ihre Tochter verloren.

Stuttgart - Ihre Tochter ist vor einem Jahr in Winnenden ermordet worden. Seitdem trauert Gisela Mayer, seitdem kämpft sie. Ein Gespräch über das Verbrechen, den Täter, die Verantwortung der Gesellschaft und die Rückkehr zur Normalität.

Frau Mayer, was verbinden Sie heute mit dem 11. März 2009?

Mein Verstand weiß, dass ein Jahr vorüber ist seit dem Mord an meiner Tochter Nina. Doch in meinen Gefühlen existiert dieses Jahr kaum. Da ist ein großer Schmerz, als wäre mein Kind erst seit wenigen Tagen tot.

Ganz Deutschland war von dem Verbrechen erschüttert, die Anteilnahme war immens. Trotzdem kritisieren Sie im Rückblick die ersten Einsätze der professionellen Helfer - Seelsorger, Ärzte, Sanitäter, Polizisten. Warum?

Kritik ist ein hartes Wort. Ich unterstelle allen Menschen, die uns damals helfen wollten, den allerbesten Willen. Trotzdem habe ich Unsicherheit, Unwissen und viele Fehler erlebt. Ich will nicht undankbar sein. Aber ich möchte, dass man über solche sensiblen Themen offen redet, damit derartige Fehler in Zukunft vielleicht unterbleiben.

Welche Fehler?

Als ich am 11. März 2009 gegen Mittag an der Schule eintraf, wo meine 24-jährige Tochter als Referendarin arbeitete, wurde ich zunächst vertröstet. Dann redete man so lange herum, bis ich die Todesbotschaft zwischen den Zeilen endlich kapiert hatte. Als ich dann zu Nina wollte, hat man mich angelogen. Es hieß, sie sei fortgebracht. Wegen dieser Lüge bin ich nach Hause gefahren. Erst später habe ich erfahren, dass meine Tochter noch stundenlang auf dem kalten Steinboden in der Schule lag, den Blicken fremder Menschen schamlos ausgesetzt. Das tut mir heute noch entsetzlich weh.

Die Polizei musste am Tatort ermitteln...

Hätte ich gewusst, dass meine Tochter noch im Gebäude war, hätte mich nichts auf der Welt abhalten können. Ich hätte eine Decke über sie gelegt, um sie zu schützen.

Haben sie den Tatort später besucht?

Ja. Einige Wochen später stand ich exakt an der Stelle, an der mein Kind sterben musste.

Viele Floskeln, steriler Trost

Sie reden auch mit gemischten Gefühlen über die öffentliche Anteilnahme. Weshalb?

Ich bin mit vielen Floskeln, sterilem Trost und falschem Gerede konfrontiert worden. Die Menschen wussten nicht, wie sie mit einer Mutter umgehen sollten, deren Tochter einem Massenmord zum Opfer gefallen war.

Wie sehen Sie heute die Rolle der Medien?

Dass es in Winnenden üble Entgleisungen seitens bestimmter Medien gab, wissen wir alle. Es gibt kluge, sensible Journalisten, und es gibt das Gegenteil: Unmittelbar nach dem Amoklauf hat eine Zeitung ohne unser Wissen ein privates Foto von Nina veröffentlicht. Das war fast so, als hätte man mir mein Kind ein zweites Mal entrissen.

Wie kam das Foto in die Presse?

Das weiß ich bis heute nicht. Ich muss annehmen, dass es aus dem Privatbesitz meiner jüngeren Tochter gestohlen wurde.

Ihr Ehemann und die zweite Tochter halten sich in der Öffentlichkeit zurück. Absicht?

Das sind klare Absprachen innerhalb der Familie. Mein Mann taucht in jüngerer Zeit ab und zu auf. Meine jüngere Tochter ist von der medialen Aufmerksamkeit überfordert; über bestimmte Dinge will sie nicht einmal mit der Familie reden. Für sie ist der Verlust der Schwester beinahe unerträglich.

Bald nach dem 11.März 2009 haben einige Hinterbliebene mit Erfolg eine öffentliche Kampagne gestartet. Heute sind im Bündnis noch drei Opfer vertreten. Schmerzt Sie das?

Die Initialzündung war ein offener Brief, in dem einige Eltern unter anderem eine Verschärfung des Waffenrechts forderten. Die Eltern wollten nicht zur Tagesordnung übergehen. Sie wollten, dass sich etwas ändert in diesem Land. Das ist bis heute das Ziel. Freilich hat jeder Mensch seine individuelle Art, mit Trauer und Verlust umzugehen. Die Hinterbliebenen haben ein gemeinsames Schicksal. Aber das macht sie nicht alle gleich.

Ein privates und ein öffentliches Gesicht

Das Bild der taffen Amoklauf-Mutter in den Medien - stimmt das?

Ich möchte es so ausdrücken: Es gibt von mir ein privates und ein öffentliches Gesicht. Das private Gesicht ist das schmerzvolle Gesicht, das vor dem 11. März 2010 immer klarer zum Vorschein kommt. Ich möchte aber nicht, dass mich die Öffentlichkeit so sieht, weil ich dann zu verletzbar bin.

Und das öffentliche Gesicht...

... ist das Gesicht einer Frau, die zutiefst davon überzeugt ist, dass etwas getan werden muss, damit sich unser Schicksal nicht wiederholt. Ich sehe latente Gefahren und möchte meine Mitmenschen warnen.

Sie halten einen neuerlichen Amoklauf an einer Schule für möglich?

Ja. Das sage übrigens nicht nur ich, sondern auch Kriminologen. Wenn die Gesellschaft nicht endlich aufwacht und handelt, wird es weitere sogenannte Schulmassaker geben.

Wird Ihre Warnung gehört?

Unser größter Erfolg ist, dass eine neue, gesellschaftliche Debatte über die verheerenden Auswirkung von Gewalt auf junge Menschen in Gang gekommen ist. Wir müssen die Verantwortung der Eltern, Schulen, Lehrer, Medien thematisieren. Uns schwebt ein Bündnis aller Städte vor, in denen es Amoktaten gab. Wir wollen eine Kraft werden, die sich dauerhaft einmischt.

Mit Ihrer Ansicht, dass die ganze Gesellschaft ein Problem hat, verweigern Sie sich auch der Dämonisierung des Amokläufers?

Ja.

Wieso wurde er zum Mörder?

Sie betonen, der 17-jährige Täter sei neben den persönlichen Abgründen ein Produkt der Gesellschaft. Man könnte auch sagen: Weil die Gesellschaft ist, wie sie ist, kommt es zu derartigen Gewaltexzessen. Welche Verantwortung trägt da überhaupt der Einzelne?

Dieser Junge wurde nicht als Amokläufer geboren. Er war ein Kind wie jedes andere Kind. Er war einer von uns. Die Frage ist nur: Wieso wurde er zum Mörder? Da muss sehr vieles zusammenkommen, die Persönlichkeit des Täters, Erlebnisse in der Schule, im Elternhaus, soziale und mediale Kontakte, womöglich eine psychische Erkrankung. Jeder, der Anteil daran hatte, dass aus dem Jungen ein Massenmörder wurde, muss seinen Teil an Verantwortung übernehmen.

Damit rühren Sie auch an Tabuthemen, etwa die Frage, warum der Täter gerade in seiner früheren Schule zugeschlagen hat.

Das ist in der Tat eine der offenen Fragen. Wir hoffen, dass wir im Prozess gegen den Vater des Täters Antworten erhalten. Wir wollen endlich Klarheit: Warum mussten 15 Menschen sterben?

Könnte es sein, dass sie dem Täter eines Tages - im christlichen Sinne - vergeben?

Ich suche Wahrheiten. Ich will die Dinge verstehen, und ich will sie verarbeiten. Das ist ein Prozess, an dessen Ende wahrscheinlich so etwas wie "Vergebung" stehen wird. So weit bin ich aber noch nicht.

Kehrt Winnenden zur Normalität zurück?

Ich meine ja. Normalität ist möglich und nötig. Die Menschen wollen wieder Lust und Freude am Leben haben. Andererseits sollten wir die Chance nicht verpassen, aus dem Verbrechen unsere Lehren zu ziehen, indem wir in Zukunft alle menschlicher, liebevoller, toleranter, aufmerksamer miteinander umgehen. Das könnte eine neue Normalität werden. Denn die alte Normalität, die wir vor dem 11. März 2009 gelebt haben, gibt es nie wieder. Wer darauf hofft, ist naiv.