Fußball-Philosoph aus dem Elsass: Gilbert Gress ist ein gefragter Experte. Foto: Getty

Gilbert Gress, früherer Stürmer des VfB Stuttgart und erster Franzose in der Bundesliga, weiß, warum Deutschland so früh ausgeschieden ist und wo die Stärken der Equipe tricolore liegen. Der 76-Jährige erzählt aber auch, warum er einst nicht vom VfB zum FC Bayern wechseln wollte.

Stuttgart - Gilbert Gress ist 76 Jahre alt und noch immer schwer beschäftigt. Als Experte im Schweizer Fernsehen genießt der Elsässer Kultstatus. Bei der WM fiebert er nun mit den Franzosen, die an diesem Freitag (16 Uhr/ZDF) im Viertelfinale auf Uruguay treffen. Aber nicht nur darum geht es in dem durchaus launigen Gespräch.

Monsieur Gress, wer wird Weltmeister?
Ich fürchte Brasilien. Ich bin zwar kein Freund von Neymar und finde es unmöglich, wie er sich aufführt. Aber die Brasilianer haben nun einmal das größte Talent.
Und Ihre Franzosen?
Haben auch gute Chancen. Unser Nationaltrainer Didier Deschamps hat ja gesagt, er will nicht die besten Spieler haben, sondern die beste Mannschaft. Bisher sieht es nicht so schlecht aus.
In der Vorrunde hat sich Frankreich aber schwer getan.
Na und? Die Mannschaften, die im ersten Spiel glänzen, sind am Ende meist schon zu Hause. In der Vorrunde geht es nur darum durchzukommen. Denken Sie an die WM 1982: Da haben sich die Italiener in ihrer Gruppe zu drei Unentschieden gequält, die Fans sind auf die Barrikaden gegangen. Und dann putzen sie plötzlich Argentinien, Brasilien und Deutschland weg und werden Weltmeister. Vielleicht läuft es diesmal ja ähnlich. Für Frankreich geht es jetzt erst richtig los.
Was macht das Team so stark?
Können Sie sich erinnern, was bei den Franzosen während der WM 2010 los war?
Sie meinen die Revolte der Spieler gegen Nationaltrainer Raymond Domenech?
So etwas ist unter Deschamps kaum denkbar. Er ist kein Sprücheklopfer und hat eine klare Linie, der alle folgen. An den Ersatzspielern sieht man, wie es um die Stimmung in einer Mannschaft bestellt ist. Zumindest bisher ist keiner ausgeschert. Alle machen das Spielchen mit, obwohl auch Stars auf der Bank sitzen.
Der bislang größte Star des französischen Teams spielt im Sturm: Kylian Mbappé. Er wird schon mit Pelé verglichen.
Ich habe gegen Pelé gespielt und kann Ihnen sagen: Da muss er noch ein bisschen was lernen. Es ist noch nicht lange her, da war er noch Ersatzspieler beim AS Monaco.
Jetzt ist er ein 180-Millionen-Euro-Mann von Paris St-Germain.
Der Junge hat alle Voraussetzungen, um ein Weltstar zu werden. Fußballerisch, aber auch vom Kopf her. Mbappé ist sehr intelligent. Wenn ich Interviews mit ihm sehe, kann ich kaum glauben, dass er erst 19 ist. Er weiß genau, was er will, und ich hoffe, dass er so weitermacht. Es ist nicht einfach, wenn man in dem Alter schon Multimillionär ist und die Erwartungen steigen.
Gegen die Abwehrspieler Uruguays könnte es unangenehm werden.
Da hat er es nicht so einfach wie gegen Argentinien, das stimmt. Aber wir haben ja viele andere gute Spieler, die genau wissen, worauf es in den großen Partien ankommt: Raphael Varane ist gerade mit Real Madrid Champions-League-Sieger geworden, Antoine Griezmann ist ein Topstürmer, Paul Pogba spielt bei Manchester United, Samuel Umtiti beim FC Barcelona . . .
. . . und Benjamin Pavard beim VfB .
Seit seinem Tor gegen Argentinien ist er in Frankreich ein Held. Die Journalisten sind ganz verrückt nach ihm. Jetzt muss er diese Leistungen bestätigen. Das ist meistens noch schwerer.
Wie überrascht sind Sie von dem Aufstieg?
Bevor er zum VfB gewechselt ist, kannte ich nur seinen Namen und dachte: Was wollen die mit einem Abwehrspieler aus Lille? Jetzt weiß ich es. Da haben die Stuttgarter ein feines Näschen gehabt. Wenn Pavard weiß, dass er noch sehr viel arbeiten muss, kann er ein Großer werden.
Die großen Clubs sind schon jetzt hinter ihm her, auch der FC Bayern. Was raten Sie ihm?
Ach, wenn ich jetzt sage, er soll zu den Bayern wechseln, sind meine Freunde aus Stuttgart sauer. Ich erzähle Ihnen lieber eine Geschichte aus meiner Zeit beim VfB: 1969 hatte ich ein Angebot von den Bayern. Die waren damals Erster, wir waren Zweiter. Dann haben wir 3:0 gewonnen. Ich bin zwei Tage später zu unserem Präsidenten ins Büro marschiert, zu Dr. Walter, einem tollen Mann, und habe ihm gesagt: Wenn wir ein, zwei gute Spieler verpflichten, haben auch wir das Zeug zum Meister. Wissen Sie, was er geantwortet hat?
Nein.
Er sagte: „Gilbert, ich bitte Sie! Ich will doch nicht Meister werden. Dann muss ich ja neue Verträge machen, die Spieler wollen mehr Geld, und die Probleme beginnen. Mir ist es viel lieber, wenn wir Fünfter werden. Dann habe ich meine Ruhe.“
Sie sind trotzdem beim VfB geblieben.
Meine Frau wollte viel lieber nach München. Aber ich bin eben eine treue Seele. Und der VfB war immer sehr nett zu mir. Bis heute bekomme ich jedes Jahr eine Geburtstagskarte. Jetzt sind wir abgeschweift. Wo waren wir stehen geblieben?
Lassen Sie uns über die deutsche Mannschaft sprechen. Haben Sie eine Erklärung für das blamable Abschneiden?
Ich finde, der eine oder andere ist sehr überheblich aufgetreten. Wenn ich etwa sehe, wie Mats Hummels rumgelaufen ist. Er hat geglaubt, er sei Franz Beckenbauer. Und die Sache mit Özil und Gündogan war natürlich auch nicht gerade optimal. Da sind einige Dinge zusammengekommen, die dazu geführt haben, dass Deutschland so kläglich gescheitert ist.
Sie waren enttäuscht?
Ich war sogar sehr enttäuscht von den Deutschen. Dass sie nicht nochmal Weltmeister werden wie vor vier Jahren in Brasilien – okay, das hatte sich schon in der Vorbereitung angedeutet. Aber dass es gleich so knüppeldick kommen würde, hätte ich nicht für möglich gehalten.
Sind Sie überrascht, dass Joachim Löw trotzdem Bundestrainer bleibt?
Hätte er eine andere Entscheidung getroffen, wäre ich auch nicht überrascht gewesen. Aber es ist halt so: Wenn du Weltmeistertrainer bist und dann so einen Untergang erlebst, willst du das wiedergutmachen. So willst du nicht abtreten. Es wird jetzt aber nicht einfacher für ihn. Publikum und Medien werden künftig kritischer sein. Aber wenn Joachim Löw glaubt, dass er das hinbekommt, dann soll er es versuchen.
Wäre es in Frankreich denkbar, dass der Nationaltrainer nach einem Vorrunden-Aus im Amt bleibt?
Ich glaube nicht. Auch bei einem Aus im Achtelfinale wäre es für Deschamps verdammt eng geworden.
Bei Paris St-Germain ist jetzt in Thomas Tuchel ein deutscher Trainer im Amt. Kann das funktionieren?
Wenn Tuchel sich treu bleibt und Neymar ebenfalls, dann dauert es acht Tage.
Und dann?
Muss einer nachgeben oder gehen. Und das wird nicht Neymar sein.