Anne Weber rettet den Geist der Idee gegen den Schiffbruch ihrer Verwirklichung. Foto: imago

Keine Angst vor Versen: Anne Webers mit dem Deutschen Buchpreis prämiertes Epos „Annette“ ist ein großes Lesevergnügen.

Stuttgart - Von dem Nobel-Komitee in Stockholm ist man mittlerweile ja einiges gewohnt. Das Votum, der US-Lyrikerin Louise Glück die weltweit wichtigste Literatur-Auszeichnung zuzuerkennen, war als Überraschungscoup angelegt und ist als solcher in der letzten Woche auch international eingeschlagen. Allerdings folgt auf die Überraschung eher leises Befremden.

Am Montagabend nun der nächste Streich . Die zumindest für den deutschen Buchmarkt vielleicht bedeutsamste Trophäe, ging an ein Buch, dem man zuvor allenfalls Außenseiterchancen eingeräumt hätte. Denn anders als die Stockholmer Jury hat der wechselnde Kreis, der alljährlich über den Deutschen Buchpreis entscheidet, durchaus im Blick, Bücher zu küren, die zumindest Chancen auf ein breiteres Leseinteresse haben. Und ein Versepos klingt nun einmal zunächst nach gelehrter Spielerei oder schrulligem Formexperiment.

Umso größer auch hier das Staunen, alsAnne Weberder Deutsche Buchpreis, der bisher an die Gattung Roman geknüpft war, für „Annette – ein Heldinnenepos“ verliehen wurde. Hier jedoch löst sich die Überraschung auf in ein bleibendes Lesevergnügen, das sich niemand entgehen lassen sollte.

Stoff für einen Desillusionsroman

Man hätte das natürlich auch ganz anders erzählen können, das Leben der 96-jährigen Anne Beaumanoir, genannt Annette, auf die die Autorin in einem kleinen Städtchen in der Haute-Provence gestoßen ist. Denn der Weg des bretonischen Fischermädchens führt mit atemberaubender Konsequenz an Stellen, an denen ihr Kampf für ein freies und gerechtes Leben immer wieder sein Ziel verfehlt. Als Résistance-Kämpferin trotzt sie zwar den nationalsozialistischen Besatzern, sieht sich nach der Befreiung aber als überzeugte Kommunistin von Moskau-treuen Kadern um die Verheißungen einer besseren Welt geprellt. Als französische Bürgerin erlebt sie die Wiederkehr brutaler Unterdrückung in Gestalt des Kolonialismus. Und als sie sich schließlich auf die Seite der algerischen Befreiungsbewegung schlägt, muss sie auch dort erleben, wie die Unterdrückten von gestern die Unterdrücker von morgen werden. Eigentlich ein wunderbarer Stoff für einen Desillusionsroman.

Doch was macht Anne Weber? Sie wird zur Sängerin, wenn man die Dichterin eines Epos so nennen will. Ist der Roman das Medium einer entzauberten Welt, in der es nicht mehr zum Einklang zwischen dem Einzelnen und dem großen Ganzen kommt, erzählt das Epos von einer Totalität, in der Sinn und Form nicht notwendig voneinander geschieden sind.

In Verse gefasst leuchten Annettes Irrläufe in einem objektiven Licht. Und das ist umso kühner, als ihre Geschichte faktisch vom Scheitern ihrer gesellschaftlichen Hoffnungen berichtet und von Erfahrungen, die ins dunkle politische Herz jener Moderne führen, die die epische Welt in die Prosa der Verhältnisse aufgelöst hat. Durch ihre formale Umdeutung rettet Anne Weber den Geist der Idee gegen den Schiffbruch ihrer Verwirklichung.

Die epische Stimme macht der Trank der Ironie geschmeidig

So kündet dieses Buch im hohen Ton der Dichtung von den Niederungen der Welt, und zeugt gleichzeitig von der Kraft der Literatur, dem, was sich der Utopie nicht fügen will, ihren eigenen Möglichkeitsraum entgegenzusetzen. Erst darin wird eine bewegte Biografie zur Heldinnengeschichte. Wobei die epische Sängerin reichlich vom Trank der Ironie genossen hat, mit dem man sich über die Brüche der in sich entzweiten Welt hinweg hilft.

Immer wieder konfrontiert sie liebevoll ihre wackere Heldin mit den Widersprüchen und Blindheiten ihrer weltverbessernden Mission, beispielsweise als Ministerin einer algerischen Regierung, in der sich bereits jene diktatorischen Umrisse abzeichnen, die die politischen Zustände im Maghreb bis heute prägen.

Mit leichterer Hand wurde selten der Ernst der Geschichte mit dem Spiel der Literatur verwoben. Was sonst sollte mit einem Buchpreis geadelt werden?