Etwa 1000 Delegierte entscheiden in Leipzig über den Weg von Verdi in den kommenden vier Jahren. Foto: dpa/Sebastian Willnow

Der scheidende Verdi-Chef Frank Bsirske lenkt den Blick seiner Gewerkschaft auf die Chancen und Risiken der Digitalisierung. Auf heftigen Gegenwind muss sich Bundesgesundheitsminister Jens Spahn einstellen.

Leipzig - Niemand konnte erwarten, dass Verdi-Chef Frank Bsirske nach 18 Jahren ohne große Worte die Bühne verlassen würde: Mehr als 110 Minuten hat er für seine letzte Rede auf dem Bundeskongress in Leipzig gebraucht, um noch einmal seine wichtigsten Botschaften loszuwerden. Folglich wurde er mit einem mehrminütigen Jubel von den etwa 1000 Delegierten verabschiedet.

Als zentrales Feld der Zukunft definiert Bsirske im Geschäftsbericht den technologischen Wandel: „Die Digitalisierung wird das Inventar des Möglichen exponentiell erweitern, und wir müssen darauf hinwirken, dass sich daraus nicht nur die Arbeitgeber bedienen können“, sagt er. Einfluss zu nehmen, sei für Verdi „ein unverzichtbarer Bestandteil unseres Ringens um gute Arbeit“. Einer Arbeitgeberumfrage zufolge fürchteten im Bereich der Privatbanken 40 Prozent der Beschäftigten, wegen der Digitalisierung binnen zwei Jahren den Arbeitsplatz zu verlieren. Allein dieses Beispiel zeige, „wie richtig es ist, dem Thema unsere ganze Aufmerksamkeit zu widmen“. Ganz real beweist derzeit die Commerzbank, dass das Bedrohungsgefühl eine hohe Relevanz hat. Auch wegen der technologischen Veränderungen will sie rund 4300 Stellen streichen und von rund 1000 Filialen etwa 200 schließen. Die Pläne haben auch Verdi offenbar so überrascht, dass Bsirske eine direkte Antwort darauf vermeidet.

Unterm Strich wieder ein Mitgliederverlust

Vielmehr lobt er den „qualitativen Einstieg in die tarifvertragliche Gestaltung der Digitalisierung“ in der Versicherungswirtschaft. Damit erhielten alle Beschäftigten, deren Arbeitsplätze aufgrund des technischen Wandels wegzufallen drohen, einen Anspruch auf Qualifizierungsmaßnahmen. Betriebsbezogener zu arbeiten, sei angesichts der Herausforderungen des digitalen Umbruchs „absolut notwendig“.

Verstärkte Anstrengungen vor Ort verlangt der scheidende Vorsitzende auch mit Blick auf die Mitgliederentwicklung, die „politischste Aufgabe der Organisation“. Da gebe es „unübersehbar immer noch gravierende Schwächen“. So würden sich bis Ende 2019 zwar wieder gut 120 000 Menschen Verdi anschließen. „So viele Organisationen, die kontinuierlich solche Eintrittszahlen vorweisen können, gibt es nicht.“ Zugleich erwartet Bsirske aber, dass die 141 000 Austritte des Vorjahres diesmal leicht übertroffen werden. Das macht unterm Strich ein Minus von mehr als 20 000. Künftig, so verlangt er, müsse die Kommunikation mit den Mitgliedern gerade dort intensiviert werden, wo es vermehrt zu Austritten kommt: in den ersten Jahren der Mitgliedschaft, beim Übergang von der Ausbildung ins Arbeitsleben und im Vorfeld der Verrentung.

Spahns „Generalangriff auf Sozialpartnerschaft“

Einen positiven Effekt verspricht sich Verdi dabei von der internen Reform – ein zeitweise hochumstrittenes Projekt, mit der die seit 18 Jahren gültige, komplizierte Organisationsstruktur entschlackt wird. Damit soll die Betreuungsarbeit für die Mitglieder verbessert sowie die haupt- und ehrenamtliche Arbeit enger verzahnt werden. Serviceangebote werden professionalisiert und Fachbereiche gebündelt. In Baden-Württemberg wird die Umstellung für Mitte 2020 angepeilt – um im Herbst zur großen Tarifrunde im öffentlichen Dienst wieder kampffähig zu sein.

Entschiedene Gegenwehr kündigt der Verdi-Chef Bundesgesundheitsminister Jens Spahn an, der einen „Generalangriff auf Sozialpartnerschaft und Selbstverwaltung im Gesundheitswesen“ plane. Der CDU-Politiker wolle die Vertreter der Versicherten aus dem Spitzenverband, damit aus dem wichtigsten Entscheidungsgremium der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) rausschmeißen und durch Kassenvorstände ersetzen. „Dies kommt einem Bruch mit der Tradition der Sozialversicherung gleich.“ Spahn begründe den Plan mit Professionalisierungsbedarf. Mit diesem Argument könne man die Bundestagsabgeordneten durch Ministerialbeamte ersetzen, ätzt Bsirske. Dies sei „antidemokratisch“ und „stößt zu Recht auf den geschlossenen Widerstand der Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände in der GKV“. Verdi werde erst ruhen, wenn „das Vorhaben auf dem Müllhaufen landet“.