Eine Mitarbeiterin kontrolliert die Produktion des Chemie- und Pharmakonzerns Merck in Darmstadt. Foto: dpa/Arne Dedert

In der chemischen Industrie bahnt sich ein Tarifabschluss in der zweiten bundesweiten Verhandlungsrunde gegen Ende dieser Woche an. Es gebe die Chance, fertig zu werden, sagt der Verhandlungsführer der Chemie-Gewerkschaft, Ralf Sikorski.

Stuttgart - Die Tarifrunde der Chemie- und Pharmaindustrie gerät in ihre entscheidende Phase – ein Abschluss am Freitag in Wiesbaden ist gut möglich, das für nächsten Dienstag und Mittwoch bereits geplante dritte Treffen in Hannover würde damit überflüssig. „Ich habe das Gefühl, dass inzwischen auch die andere Seite ins Laufen gekommen ist – so haben wir die Chance, in der zweiten Runde fertig zu werden“, sagt der Verhandlungsführer der Chemie-Gewerkschaft (IG BCE), Ralf Sikorski, unserer Zeitung. Er könne nicht erkennen, welche Sachlage sich zwischen Freitagmittag und Dienstagmorgen großartig ändern sollte. Wenn die Arbeitgeber nicht alles noch komplizierter machten, könne man abschließen. Derweil beziffert die Gegenseite die Chancen auf „50 zu 50“.

Das Besondere an der Tarifrunde: Der Lohnzuwachs ist Nebensache – die Gewerkschaft strebt allenfalls ein unbeziffertes „reales Entgeltplus“ an. „Wir haben in den vergangenen zehn Jahren wegen der fantastischen wirtschaftlichen Lage bereits mehr als 37 Prozent an Lohnplus aushandeln können – das ist eine Basis, auf der man auch über andere Elemente reden kann“, sagt Sikorski.

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Mehr Wert legt die IG BCE auf ein „Zukunftskonto“ – ihre Antwort auf die IG-Metall-Forderung von 2018 „Zeit statt Geld“. Demnach erhält jeder Beschäftigte ein tariflich gesichertes Konto in Höhe von 1000 Euro jährlich zur individuellen Verfügung – etwa zur Umwandlung in freie Tage. „Entlastung ist das Kernbedürfnis der Beschäftigten, was mit der Arbeitsverdichtung durch Effizienzsteigerungsprogramme, aber auch mit der Digitalisierung zu tun hat“, sagt Sikorski. Die Kollegen wollten keine reine Arbeitszeitverkürzung, sondern einen lebensphasenorientierten Ausgleich.

Alle Beschäftigten sollen vom Zukunftskonto profitieren

Anders als es die IG Metall 2018 gehandhabt hat, legt die Chemiegewerkschaft Wert darauf, dass alle Beschäftigten vom Zukunftskonto profitieren – und dass sie selbst über die Verwendung ihres Guthabens entscheiden können. „Deshalb wollen wir einen bunten Blumenstrauß von Optionen binden und nicht nur die Wahl zwischen Zeit oder Geld lassen.“ Zugleich sollen die Betriebsparteien die Möglichkeit bekommen, das Angebot auf die jeweilige Lage vor Ort zuzuschneiden. Dann könnten sie neben dem Zeitelement andere Instrumente wie Sabbatjahre, Langzeitkonten oder die Altersvorsorge nutzen, die schon in den Tarifverträgen enthalten sind.

Der Arbeitgeberverband der Chemie (BAVC) erhebt noch Einwände: Demnach könne es das Zukunftskonto nur geben, wenn an anderer Stelle Mehrarbeit vereinbart werde, um die Ausfälle durch freie Tage zu kompensieren, sagt ein Sprecher.

Zweites innovatives Element ist die bundesweit erste tarifliche Pflegezusatzversicherung. Sie soll durch die Arbeitgeber finanziert werden, um bei Eintritt des Pflegefalls die Finanzierungslücke zur gesetzlichen Vorsorge zu schließen. Auf Arbeitgeberseite fragt man sich, was die Pflegeabsicherung in der Tarifpolitik zu suchen hat. „Gute Tarifpolitik sollte ihren Teil zur Lösung gesamtgesellschaftlicher Herausforderungen beitragen“, argumentiert Sikorski. Außerdem gebe es dazu bereits einen „Piloten“ bei Henkel – von dort erhalte er von beiden Seiten positive Rückmeldungen. „Es gibt daher schon eine Wertschätzung des Themas auch im Arbeitgeberlager.“ Zudem hebe es die Attraktivität des Arbeitgebers, wenn er Dinge anbiete, die es am Markt so noch nicht gebe und die gute Konditionen beinhalteten. „Da helfen wir gerne nach.“

Streiks „nicht das Geschäftsmodell der IG BCE“

Auf 1,8 Prozent der Entgeltsumme beziffern die Arbeitgeber den Wert des Zukunftskontos und auf 0,7 Prozent die Pflegeversicherung – 2,5 Prozent der Lohnerhöhung wären somit schon reserviert. Daher müsse ein länger laufender Tarifvertrag vereinbart werden, wenn noch ein reales Entgeltplus obendrauf kommen solle, deutet der Verbandssprecher an. Dabei verweist er auf die schwierige Lage der Chemieindustrie in diesem Jahr mit einem Minus von sechs Prozent bei der Produktion und fünf Prozent beim Umsatz. Sikorski bleibt gelassen: „Nach Jahren des All-Time-High haben wir jetzt mal kein Rekordjahr – das ist aber kein Anlass, Horrorszenarien zu malen.“ Im Kern gehe es lediglich um Produktionsrückgänge, nicht um rote Zahlen beim Ergebnis.

Mit Streiks großen Druck aufzubauen, das hält die Chemiegewerkschaft nach wie vor für verzichtbar. „Wir sind in der Lage, von heute auf morgen zu mobilisieren“, sagt der Verhandlungsführer und wagt einen Seitenhieb auf die IG Metall, wenngleich er diese nicht nennt: „Das ist aber nicht das Geschäftsmodell der IG BCE. Wir brauchen keine Warnstreiks, um in Verhandlungen zu kommen.“

Die Chemie zeichne sich dadurch aus, dass am Ende Lösungen im Konsens erarbeitet werden. „Diese mögen in der Öffentlichkeit langweiliger wirken, halten aber in der Sache jedem Vergleich stand.“ Diese Maxime müsse man sich in jeder Tarifrunde neu erarbeiten, wenn etwa Verantwortliche wechseln. „Eine Garantie gibt es nie“, sagt Sikorski. Es gelinge solange, bis eine Seite anfange, an diesen Schrauben zu drehen. „Dann könnten wir auch von heute auf morgen umschalten.“

„Tarifbindung langfristig sichern – statt sich in Details zu verhaken“

Mit Blick auf die angespannte Atmosphäre zwischen Gewerkschaft und Arbeitgeberdachverband in der Metall- und Elektroindustrie urteilt er: „Wenn Gesamtmetall sagt, dass Tarifverträge Mindestbedingungen regeln sollten, so ist das nicht die Perspektive der letzten Jahrzehnte und nicht besonders klug, jetzt eine Rolle rückwärts zu machen.“ Das führe zwangsläufig zur Konfrontation. Ihn wundere nicht, dass die IG Metall zurecht darauf reagiere. „Ich fände es aber viel spannender, wenn Arbeitgeber und Gewerkschaften sich perspektivisch eher über die Frage unterhalten: Wie kreieren wir Ideen, um die Tarifbindung langfristig zu sichern – statt sich in Details zu verhaken und am Ende Klein-Klein-Politik zu machen, die dazu führt, dass man in noch härtere Auseinandersetzungen geht.“ Man sollte sich somit eher fragen, was mit Blick auf die sich verändernde Arbeitswelt an Gestaltungskraft und -willen da sei, rät Ralf Sikorski.