In der Freiburger Innenstadt scheint alles normal, doch der Eindruck täuscht, sagt eine Studentin. Foto: dpa

Was genau im Falle der beiden getöteten Frauen aus Freiburg und Endingen geschah, ist noch immer ungeklärt. Wie kann das sein? Auf der Suche nach Antworten in einer verunsicherten Stadt.

Freiburg - Kurz hinter dem Sportinstitut kommt das mulmige Gefühl, da, wo rechts des Dreisam-Radwegs nur noch Bäume und Büsche zu sehen sind. Am späten Vormittag begegnen einem hier nur wenige Menschen. Ein paar Spaziergänger mit Hunden, eine Joggerin, die kurz aufblickt, Radfahrer, die ihre Kapuzen tief in die Stirn gezogen haben, weil der Wind beißend kalt ist an diesem Tag, trotz des Sonnenscheins. Links des Wegs, auf der anderen Seite der Dreisam, tauchen nun die Ausläufer des Schwarzwalds auf, rechts ein paar Tennisplätze, dann die Sportanlagen des SC Freiburg. Dort, wo die Fußgängerbrücke, der Ottiliensteg, unterhalb des Fußballstadions über den Fluss führt, wurde die 19-jähige Medizinstudentin Maria L. in der Nacht vom 15. auf den 16. Oktober vergewaltigt und getötet, nachdem sie mit dem Fahrrad von einer Party in der Stadt zu ihrem Wohnheim zurückfahren wollte. Vor einem Baum am Uferweg stehen noch immer dutzende rote und weiße Grablichter, Blumen, Kerzen, und nur das Laub dazwischen zeugt davon, dass das Verbrechen schon eine Weile zurückliegt.

Über die Umstände des Mordes, sagt Peter Egetemaier, weiß man bis heute nichts. Nicht, ob die junge Frau ein Zufallsopfer war oder ob der Täter sein Opfer schon kannte, nicht, wie genau sich die Tat abspielte und auch nicht, ob der Fall mit dem Mord an der Joggerin Carolin G. im 20-Kilometer entfernten Endingen zusammenhängt. Immerhin handelt es sich in beiden Fällen um Sexualverbrechen. Der Chef der Kriminalpolizei, schwarzer Anzug, weißes Hemd, lila-gestreifte Krawatte, sitzt in einem Büro im Freiburger Polizeipräsidium, die Arme auf den Tisch gestützt, die Stirn in Falten gelegt. „Die Aufklärung zieht sich, weil wir noch immer nicht wissen, wie genau sich die Taten abgespielt haben“, sagt er – trotz des immensen zeitlichen und personellen Aufwands der Polizei. Etwa 100 Beamtinnen und Beamte arbeiten insgesamt in den beiden Sonderkommissionen „Dreisam“ und „Erle“, rund ein Drittel davon von anderen Polizeistandorten im Land – auch nachts, sie gehen über 1200 Spuren allein im Freiburger Mordfall nach, haben etwa 1400 Vernehmungen geführt.

In beiden Fällen fehlt noch immer eine heiße Spur, die Ermittlungen wurden ausgeweitet

Doch eine heiße Spur, irgendetwas Handfestes, fehle noch immer, sagt Egetemaier. Obwohl bei Maria L., der Studentin aus Freiburg, männliche DNA-Spuren gesichert wurden, ergab ein Abgleich mit der deutschen Gen-Datenbank und jenen der Nachbarländern kein Ergebnis. Auch die jüngste Untersuchung der freiwilligen DNA-Proben von männlichen Besuchern einer Uni-Vorlesung, zu der Spürhunde offenbar wiederholt geleitet hatten, ergab nichts. Und die rechtliche Lage in Deutschland verbietet es den Kriminalpolizisten, nur von der DNA auf äußere Merkmale des Täters zu schließen. Also wurden die Ermittlungen im Fall „Dreisam“ nun ausgeweitet, wurden die 30 000 Studierenden der Universität Freiburg um die Teilnahme an einer Online-Befragung gebeten, in der Hoffnung, dass sich irgendwo noch ein Hinweis finden könnte.

Noch schwieriger gestalten sich die Ermittlungen im zweiten Fall, im Mordfall der 27-Jährigen aus Endingen, die an einem Sonntagmorgen Anfang November zum Joggen aufbrach und nicht zurückkehrte, Tage später in einem Waldstück gefunden wurde, sexuell missbraucht und ermordet. Etwa 900 Spuren geht die Sonderkommission „Erle“ hier nach, aber voll verwertbare DNA-Spuren habe man nicht gefunden, sagt Egetemaier, noch nicht jedenfalls. Das mag seltsam anmuten bei einer Vergewaltigung, doch auch wenn es Vergewaltigung heiße, bedeute das nicht immer automatisch auch Sperma- oder DNA-Spuren, heißt es von der Polizei. Rein rechtlich gesehen fallen inzwischen auch sexuelle Handlungen unter den Vergewaltigungs-Paragraphen, die früher noch nicht als solche galten. „Die Arbeit in Sonderkommissionen gleicht oft einem Langstreckenlauf, und wir arbeiten in beiden Fällen solange bis wir feststellen müssen, dass uns keine Ermittlungsansätze mehr vorliegen“, sagt Egetemaier.

Das Klima in der Stadt habe sich verändert, sagt eine Studentin

Es sind wohl vor allem die Fragen, ob die beiden Gewaltverbrechen zusammenhängen oder nicht, ob es sich gewissermaßen um einen Serienmörder handelt, der noch immer frei umherläuft, oder ob die Taten vielleicht doch Beziehungstaten waren, die bei den Menschen in Freiburg und Umgebung seit Wochen für Verunsicherung sorgen. Das weiß auch Egetemaier, und auch, dass sich dieses Gefühl wohl kaum legen wird, solange nicht geklärt ist, was genau geschah. Im Moment sei alles denkbar, aber man arbeite mit Hochdruck an der Aufklärung, immer am Anschlag, denn schließlich müsse auch die alltägliche Polizeiarbeit irgendwie bewältigt werden. „Über die Region hat sich ein dunkler Schatten gelegt“, sagt der hochgewachsene Kripo-Chef, und auch ihn nimmt das sichtlich mit, schließlich gab es etwas Vergleichbares in seiner bald 40-jährigen Laufbahn bei der Polizei noch nicht.

Von diesem dunklen Schatten ist hier, in den kopfsteingepflasterten Altstadtgassen zwischen Münster, Schwabentor und Schlossberg in der Freiburger Innenstadt an diesem Tag nicht viel zu spüren. Vor der Universitätsbibliothek stehen ein paar Studierende in der Sonne, und auch vor der Mensa ist viel los. Gerade hat hier das sogenannte „Bändern“ bundesweit für Schlagzeilen gesorgt, ein Trend, bei dem junge Leute Essensreste von den Rückgabebändern in der Freiburger Kantine nehmen, als Zeichen gegen die Wegwerfgesellschaft.

Aber der Eindruck täuscht, sagt eine Studentin, die Ereignisse hätten das Klima in der Stadt verändert. „Die Mordfälle sind ständig und überall Thema.“ Vor allem nachts sei die Anspannung spürbar, man traue sich nicht mehr ohne Bedenken alleine auf die Straße, jedenfalls nicht als Frau. „Wenn wir abends noch an der Uni sind, wird jetzt gefragt, wie jeder oder jede nach Hause kommt“, sagt die junge Frau, „das war vorher anders.“ Und viele ließen nun das Joggen sein, sagt eine Uni-Mitarbeiterin, oder gingen nur noch mit einem mulmigen Gefühl. „Ich schaue mir genauer an, wer entgegenkommt, und gucke ständig, ob jemand hinter mir ist“, sagt die 26-Jährige.

Die Nachfrage nach Pfeffersprays und Selbstverteidigungskursen in der Stadt ist hoch

Dass tatsächlich etwas anders ist in Freiburg, dass die Leute verängstigt sind, zeigt sich erst auf den zweiten Blick, hinter den Kulissen des Schwarzwald-Idylls, zum Beispiel in den Drogeriemärkten der Kette dm. Seit Wochen seien Pfeffersprays – oder besser: Tierabwehrsprays – hier quasi ständig ausverkauft, sagt ein Mitarbeiter der Filliale am Bertholdsbrunnen und deutet auf eine große Lücke im Regal, wo bestimmt 30 Spraydosen Platz hätten. Die Nachfrage nach Selbstverteidigungskursen, bestätigen mehrere Kampfsportzentren und die Volkshochschule, sei seit den Mordfällen enorm gestiegen. Die derzeitige Nachfrage pro Woche habe man zuvor nicht einmal pro Monat gehabt, heißt es von einem Zentrum.

Auch in dem kleinen Waffenladen von Egon Dietsche ist die Veränderung spürbar. Im Schaufenster des Geschäfts, abseits der großen Einkaufsstraßen im Erdgeschoss eines Wohnblocks, hängt ein einfaches Pappschild mit der Aufschrift „Pfeffersprays“. In einem Regal hinter der Kasse reihen sich duzende kleine und große, pinkfarbene und schwarze Spraydosen, daneben Packungen mit Elektroschockern und Reizgaspatronen. Natürlich, der Verkauf von Pfeffersprays sei spürbar gestiegen, sagt der Waffenhändler, aber Zahlen nennt er keine. Dietsche, grauer Schnauzer, kariertes Hemd, grüne Weste ist gegen Panikmache, und dass es Tierabwehrsprays inzwischen schon bei dm zu kaufen gibt, ärgert ihn. Schließlich sei es wichtig, dass man wisse, wie man sowas einsetze, sagt er. Ob die vielen verkauften Sprays nun auch vermehrt eingesetzt werden? Dietsche zuckt nur mit den Achseln, wünschen tut er es keinem. „Da geht es eher um etwas Psychologisches: Hat man das Spray in der Hand, gibt einem das ein Gefühl von Selbstsicherheit.“