Im Risiko: Kinder sind während der Corona-Isolation gefährdet. Foto: dpa/Nicolas Armer

Keiner schaut hin, keiner sieht es: Für Kinder steigt während der Coronakrise die Gefahr, Opfer von Kinderpornografie, Missbrauch und Cybergrooming zu werden.

BERLIN - Kinder werden immer häufiger Opfer von sexueller Gewalt, und auch in der Coronakrise sehen Experten eine Risikosituation für diese Form der Kriminalität. Die Zahl der nachgewiesenen sexuellen Übergriffe gegen Kinder stieg der Polizeilichen Kriminalstatistik zufolge im vergangenen Jahr auf mehr als 15 900 Fälle. Im Vorjahr waren es 14 600 Fälle. Besonders hoch sei der Anstieg im Bereich der Kinderpornografie, sagte der Präsident des Bundeskriminalamtes, Holger Münch, am Montag bei der Vorstellung der Statistik in Berlin.

Für den Anstieg um 65 Prozent auf 12 300 Fälle gibt es demnach zwei Gründe: zum einen registrieren die Ermittler immer mehr Fälle, in denen Jugendliche kinderpornografisches Material über Messenger-Dienste teilen. Meistens handele es sich dabei nicht um pädophile Neigungen, sondern um gedankenlose Mediennutzung. Zum anderen sei die Ausstattung in den Landeskriminalämtern in diesem Bereich inzwischen verbessert, sodass mehr Fälle aufgedeckt werden könnten.

Der Peiniger ist immer da

Auch durch die Lebensumstände von Familien während der Coronakrise rechnet Münch mit mehr kinderpornografischen Delikten und möglicherweise mit mehr Gewalt. Zwar ließen die bisher vorliegenden Zahlen nicht erkennen, dass Gewalt oder Missbrauch im häuslichen Umfeld zunehme, so Münch. Aber die Zahlen seien mit äußerster Vorsicht zu interpretieren. Das Dunkelfeld sei groß. Das Risiko für Gewalt in der Familie oder im sozialen Umfeld von Kindern steige durch die große räumliche Nähe, durch Stressfaktoren wie Existenzängste und die fehlende Möglichkeit für Kinder, sich ihren Peinigern zu entziehen.

Während der Pandemie steige zudem auch die digitale Kommunikation, so Münch. Das erhöhe das Risiko von Kindern, Opfer von Cybergrooming zu werden – so nennt man die Straftat, im Netz Kontakt zu Kindern aufzunehmen und sie dazu zu bringen, pornografische Bilder von sich zu versenden. Da auch im Bereich der legalen Pornografie der Konsum seit Beginn der Pandemie um 15 bis 20 Prozent zugenommen habe, müsse man von einer Steigerung bei illegaler Pornografie ausgehen, sagte Münch weiter. Er rief die Bevölkerung dazu auf, trotz physischer Distanz aufmerksam gegenüber Kindern zu bleiben. „Es gilt gerade jetzt, wachsam zu sein und Verantwortung zu übernehmen.“

Experten fordern mehr Ermittlungsmöglichkeiten

Auch der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, sieht in der Coronakrise ein erhöhtes Risiko durch die Isolation in der Familie. Die Heidelberger Gewaltambulanz hatte vergangene Woche berichtet, sie verzeichne mehr Misshandlungen. Sie gehe von einer vorübergehenden Verdreifachung der Fälle aus, sagte die Leiterin Kathrin Yen dem „Ärzteblatt“. Rörig berichtete von einem positiven Aufdeckungseffekt in der Coronakrise: dadurch dass Kinder viel Zeit in der Familie verbrächten, berichteten sie offenkundig vermehrt über Missbrauch, der ihnen außerhalb der Familie widerfahren sei. Dadurch gebe es mehr Anrufe beim Hilfetelefon sexueller Missbrauch.

Er forderte Gesetzesverschärfungen im Kampf gegen sexuelle Gewalt – dazu gehört Vorratsdatenspeicherung. Auch Münch plädierte für Vorratsdatenspeicherung, für eine Meldeverpflichtung für Provider und vor allem für eine Erweiterung des Rechtsrahmens für Onlineüberwachung beispielsweise im Darknet. „Nur so haben wir die Möglichkeit, das Leid von Kindern zu beenden“, sagte Münch. Nach seinen Angaben kommen die weitaus meisten Hinweise auf Straftäter im Netz von den US-amerikanischen Ermittlungsbehörden.

Kindern fehlt Medienkompetenz

Sowohl Münch als auch Rörig forderten mit Blick auf Kinderpornografie und Cybergrooming bessere Prävention. Er beobachte eine große Sorglosigkeit bei Kindern und Jugendlichen im Umgang mit dem Internet, so Münch. Rörig kritisierte fehlende Medienerziehung an Schulen. „Die Mädchen und jungen müssten auf ihrem Weg in die digitale Welt begleitet werden“, sagte er, man müsse ihnen hier auch die Grenzen von Ethik und Menschenwürde beibringen.

Insgesamt bleibt die Gewalt gegen Kinder der Statistik zufolge unverändert hoch. Im vergangenen Jahr wurden 112 Kinder vorsätzlich oder fahrlässig getötet, 93 davon waren jünger als sechs Jahre. Die Zahl der Misshandlungen lag bei 4055 (2018: 4129).