Tatort: Auf Schloss Foto: Uckermäcker

In Berlin fällt ein Zehnjähriger über einen Gleichaltrigen her. Was sagt die Tat über den Zustand der Grundschulen aus?

Berlin - Das unfassbare Verbrechen passiert auf einer Klassenfahrt von Viertklässlern in die brandenburgische Uckermark. Beim Aufenthalt im malerischen Schloss Kröchlendorff halten zwei Elfjährige ihren zehn Jahre alten Mitschüler fest; ein Zehnjähriger vergewaltigt ihn. Die drei Lehrerinnen und ein Erzieher der Berliner Grundschule, die die Klasse während des Ausflugs begleiteten, bekommen von alldem nichts mit. Erst anderthalb Wochen später wird die Tat bekannt: Ein Freund des Opfers erzählt einem Sozialarbeiter davon. Die Schule informiert daraufhin Eltern und Polizei. Von einem „schockierenden Fall“ spricht die Berliner Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD).

Bis zum Ferienbeginn werden die mutmaßlichen Täter vom Unterricht ausgeschlossen. Das Berliner Bezirksamt prüft, ob sie außerhalb einer öffentlichen Schule unterrichtet werden können. „Wir wollen alle rechtlichen Möglichkeiten ausschöpfen, dass der Haupttäter keine Regelschule besucht, sondern besondere Schulmaßnahmen erfährt“, sagte eine Sprecherin der Berliner Senatsschulverwaltung. Für den Jungen könnte Unterricht in besonderen Kleingruppen oder eine spezielle Einzelfallhilfe organisiert werden. Das Opfer hat auf eigenen Wunsch die Schule gewechselt. Zusätzliche Brisanz gewinnt der Fall, weil es sich bei dem Trio um einen Afghanen und zwei Syrer handelt, wie die „Berliner Zeitung“ und „Bild“ berichten. In der Grundschule mitten in einem Berliner Brennpunkt waren sie schon vorher aufgefallen – allerdings nur wegen Raufereien.

Die Gewalt sei ungewöhnlich

Experten tun sich schwer, die Tat einzuordnen. In seiner 40-jährigen Laufbahn als Lehrer an Berliner Schulen und als Schulpsychologe habe er so etwas noch nie erlebt, sagt der Schulpsychologe Klaus Seifried: „Ein derart brutaler Übergriff mit Festhalten, Demütigungen und sexuellem Missbrauch ist ganz ungewöhnlich.“ Er zeuge von einer moralischen Enthemmung und großen Aggressivität. Vor allem die sexualisierte Gewalt noch vor der Pubertät sei ungewöhnlich.

Gewalt an Schulen sei „kein flächendeckendes Problem“, betont Heinz-Peter Meidinger, Präsident des Deutschen Lehrerverbandes und Schulleiter eines bayerischen Gymnasiums. Es gebe keine Steigerung der Gewalttaten unter Schülern. Sozialarbeiter und zusätzliche Schulpädagogen hätten erreicht, dass die Zahl der gemeldeten Vorfälle mit Körperverletzung zurückgehe, sich in den letzten 25 Jahren in Deutschland gar halbiert habe, sagt Thomas Fischer vom Deutschen Jugendinstitut: „Wir haben ein System, das auf Verhaltensstörungen gut reagiert.“

Grundschüler von der Schule auszuschließen ist fast unmöglich

Wie sich die Lage aber an bestimmten Schulen darstellt, lässt sich nur schwer ermitteln, auch weil Erhebungen nach einheitlichen Maßstäben fehlen. Meidinger hört immer wieder von Lehrern aus Brennpunktschulen: „Mit schwierigen Schülern werden wir alleinegelassen.“ Da würden Disziplinarmaßnahmen wie Strafarbeiten wenig helfen. Auch Geldbußen, die in manchen Ländern von Kommunen verhängt würden, seien kein geeignetes Mittel. Schüler, besonders Grundschüler, von der Schule auszuschließen sei fast unmöglich, so Meidinger. Bei schweren Taten würden Psychiater eingeschaltet, die Schüler auf Verhaltensstörungen untersuchten.

Ob der kulturelle Hintergrund der Schüler bei Gewalttaten eine Rolle spielt – darüber sind sich die Experten uneins. Man dürfe keinen Fall pauschalisieren, meint Fischer. Wichtig sei die individuelle Aufarbeitung. Ob es sich bei dem Trio um Geflüchtete handelt, ist bislang unklar.