Nach dem brutalen Angriff auf den SPD-Spitzenkandidaten in Dresden wollen die Innenminister darüber beraten, wie man Politiker besser schützen kann. Wie groß ist das Problem – und woher kommt die Gewalt?
Einer hat sich gestellt, die anderen drei sind ermittelt: Am Montag teilten das Landeskriminalamt Sachsen und die Staatsanwaltschaft Dresden mit, dass der Polizei inzwischen alle vier Tatverdächtigen bekannt seien, die den SPD-Europaabgeordneten Matthias Ecke zusammengeschlagen haben sollen. Ecke war vergangene Woche beim Plakatieren für den Wahlkampf angegriffen und schwer verletzt worden. Bei den Tatverdächtigen handelt es sich um vier Männer im Alter zwischen 17 und 18 Jahren. Mindestens einen von ihnen rechnet das Landeskriminalamt dem rechten Spektrum zu.
Der brutale Übergriff in Dresden hat eine bundesweite Debatte über Gewalt gegen Politikerinnen und Politiker ausgelöst. Das Problem ist nicht neu: 2019 wurde der Kasseler Regierungspräsident und CDU-Politiker Walter Lübcke von einem Rechtsextremisten ermordet. Der Fall sorgte bundesweit für Entsetzen und wirkt bis heute nach. Nach dem Angriff auf Ecke wollen die Innenminister von Bund und Ländern nun am Dienstag zu einem informellen Sondertreffen zusammenkommen, um mögliche Schutzmaßnahmen zu beraten. Denn auch die Zahlen zeigen: Die Übergriffe nehmen zu – und zwar in ganz Deutschland.
Fast eine Verdopplung seit 2019
Aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der AfD geht hervor, dass die Angriffe gegen Politikerinnen und Politiker sowie gegen Parteieinrichtungen in den vergangenen Jahren gestiegen sind. 2019 zählte die Polizei bundesweit 1420 Angriffe auf Parteivertreter, darunter 206 Gewaltdelikte. 2023 waren es fast doppelt so viele: 2790 Vorfälle, davon 234 Gewalttaten. Richteten sich 2019 die meisten Angriffe gegen die AfD, sind es inzwischen die Grünen, die am häufigsten betroffen sind. Gegen sie wurden im vergangenen Jahr mehr als 1200 Angriffe erfasst. An zweiter Stelle lag die AfD mit knapp 480 Vorfällen.
Andreas Zick, Leiter des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung an der Universität Bielefeld, verweist darauf, dass schon in Studien aus dem Jahr 2011 eine Verrohung in der Mitte der Gesellschaft festzustellen gewesen sei. „Sie war und ist geprägt von einem höheren Ausmaß an Billigung von Aggression und Gewalt zur Durchsetzung der eigenen Interessen“, sagt Zick.
Dass Gewalt gesellschaftlich inzwischen mehr gebilligt wird, führt Zick auf eine zunehmende Offenheit für rechtsextreme, rechtspopulistische und verschwörungsorientierte Einstellungen zurück: „Dahinter liegt eine zunehmende Distanzierung von der Demokratie“, sagt er. Dies sei eine Folge von Krisen. Er verweist auch auf einen weiteren Aspekt: „In sozialen Medien finden Radikalisierungsprozesse statt, die dann in Gewalt münden können. Es ist nicht nur einfach Wut, die verpufft.“ Angriffe gegen Politikerinnen und Politiker folgten oft einer Kampagne im Internet, die ein bestimmtes Feindbild aufbauten, sagt er: „Gefährlich wird es dann, wenn Gewaltfantasien getauscht werden, die die Person benennen oder wenn Informationen ins Netz kommen, wo und wie diese Person lebt.“
Ein bekanntes Phänomen
Der Politikwissenschaftler Tom Thieme, Professor für Gesellschaftspolitische Bildung an der Hochschule der Sächsischen Polizei, sagt aber auch: „Gewalt gegen Politiker ist grundsätzlich kein neues Phänomen.“ Thieme betont zudem, dass man in Sachsen auch nicht von einer Zunahme rechtsextremer Gewalt sprechen könne: „Die furchtbaren Verhältnisse, die wir hier in den Neunziger- und Nullerjahren hatten, sind glücklicherweise vorbei.“ Damals waren vor allem Menschen mit Migrationshintergrund und politisch links eingestellte Menschen wie Punks betroffen. Heute kommt es mehr zu Angriffen gegen Politiker. Thieme erklärt das ebenfalls mit einer Polarisierung, die Folge der multiplen Krisen sei und zu Radikalisierung führe.
Ob sich das Problem in Ost- verstärkter als in Westdeutschland zeigt, lässt sich schwer beantworten. Axel Salheiser ist wissenschaftlicher Leiter des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft in Jena. Er sagt: „Es gibt keinen statistischen Nachweis dafür, dass es in Ostdeutschland zu mehr Gewalt gegen Politikerinnen und Politikern kommt als in Westdeutschland. Ich halte es aber trotzdem für plausibel, dass das so sein könnte.“ Ein Grund dafür sei, dass es in Ostdeutschland insgesamt mehr politisch motivierte Gewalt als in Westdeutschland gebe. Salheiser betont aber auch: „Gewalt gegen Politikerinnen und Politiker ist ein bundesweites Phänomen – und kein spezifisch ostdeutsches.“