Sozialminister Manfred Lucha bittet Opfer um Entschuldigung Foto: dpa

Mehr als 2400 ehemalige Heimkinder aus Baden-Württemberg haben sich als Gewaltopfer gemeldet. Die Greueltaten an Schutzbefohlenen dürften nicht verjähren, fordern sie.

Stuttgart - Als 2010 der Missbrauchskandal an der Odenwaldschule bekannt wurde, wurden bei Willy Dorn böse Erinnerungen wach. Plötzlich war wieder da, was er jahrzehntelang zu verdrängen versucht hatte, berichtete der 64-Jährige am Montag in Stuttgart. Der Maler und Grafiker aus Ulm, der sieben Jahre in drei Kinderheimen verbracht hatte, zählt zu den vielen Tausenden, die zwischen 1949 bis 1975 in einem Heim Opfer von körperlicher, psychischer oder sexualisierter Gewalt wurden.

In Baden-Württemberg haben in den vergangenen sechs Jahren 2456 Betroffene Hilfe beim Beratungsteam des Kommunalverbandes Jugend und Soziales gesucht. 1846 ehemalige Heimkinder erhielten Leistungen von insgesamt 23,3 Millionen Euro aus dem Fonds „Heimerziehung in der Bundesrepublik in den Jahren 1949 bis 1975“, den der Bund, die Länder und die katholische und evangelische Kirche zum 1. Januar 2012 eingerichtet hatten. Bis Ende 2014 konnten ehemalige Heimbewohner, die dort Gewalt erlebt hatten, Leistungen beantragen. Mit Sachleistungen von bis zu 10 000 Euro sollte der Alltag Betroffener erleichtert werden. Bezahlt wurden auch Therapien und Rentenersatzleistungen.

Nur wenige Täter wurden zur Rechenschaft gezogen

Hilfe zu erhalten und endlich ein offenes Ohr zu finden und über ihr Leid sprechen zu können, habe vielen geholfen, sagte Dorn. Wichtig sei aber auch, dass die Vergehen nicht verjährten. Nur wenige Täter wurden jemals zur Rechenschaft gezogen.

Die Verjährung tausender Taten wird Sozialminister Manfred Lucha (Grüne) nicht rückgängig machen können. Die Aufarbeitung und Unterstützung ehemaliger Heimkinder sei jedoch nicht abgeschlossen, auch wenn Ende des Jahres der Fonds „Heimerziehung in der Bundesrepublik Deutschland in den Jahren 1949 bis 1975“ endet und die Anlauf- und Beratungsstelle für ehemalige Heimkinder in Stuttgart ihre Türen schließt, sagte Lucha bei der Vorstellung des Abschlussberichts „Heimerziehung 1949 bis 1975“. „Wir haben beschlossen, ein landesweites unabhängiges Ombudssystem in der Jugendhilfe einzurichten – eine Ombudsstelle, an die sich in Zukunft auch ehemalige Heimkinder wenden können.“ Um solche Vergehen zu verhindern, müssten Warnzeichen ernst genommen und der Schutz von Kindern in Heimen weiter gestärkt werden, etwa durch Fortbildungen und wirksame Kinderschutzkonzepte.

Auch Frauen unter den Tätern

92 Prozent derer, die sich an die Beratungsstelle wandten, berichteten von körperlicher Gewalt, 98 von psychischer Gewalt. Viele wurden zum Essen gezwungen, eingesperrt und schon als Kinder zur Arbeit herangezogen. Eine Ausbildung wurde vielen verweigert. Von den 1846 Betroffenen, die Leistungen aus dem Fonds erhielten, berichteten 533 (31,6 Prozent) von sexualisierter Gewalt. Fast die Hälfte der Taten wurden von Betreuungspersonen begangen, 29 Prozent von anderen Heimbewohnern. Zwei Drittel der Opfer waren Jungen. Unter den Tätern waren auch Frauen.

Auch das Landesarchiv hat den Aufarbeitung unterstützt. Dadurch hatten viele Betroffene erstmals die Möglichkeit, einen Blick in ihre Akten zu werfen. Ihr sei als Dreijährige bescheinigt worden, sie leide unter Hospitalismus, erzählt eine 63-Jährige, die als unehelicher Säugling in ein Heim kam und über Jahre fast nur Demütigungen erlebte. Auch heute müsse sie sich immer wieder gegen das Gefühl wehren, nichts wert zu sein und niemandem trauen zu können.