Wie abartig ist es, heterosexuell zu sein? Derart provokative Fragen bietet die Lehrergewerkschaft GEW als Unterrichtsmaterial an. Die Opposition meint: Aufklärung geht anders.
Stuttgart - Das Thema Homosexualität im Schulunterricht sorgt in Baden-Württemberg weiter für Aufregung. Die Opposition im Stuttgarter Landtag hat die größte Lehrergewerkschaft im Land, die GEW, aufgefordert, einen umstrittenen Fragebogen aus einer Sammlung von Unterrichtsmaterialien zu entfernen. „Die GEW sollte das schnellstens zurück ziehen“, sagte FDP-Fraktionschef Hans-Ulrich Rülke unserer Zeitung. Der Fragebogen sei „in jeder Hinsicht unterirdisch“. CDU-Fraktionschef Peter Hauk nannte den Fragebogen „unmöglich“. Es gehe gar nicht, dass ein solcher Text den Lehrern ohne weitere Erläuterungen an die Hand gegeben werde. Die GEW schaffe mit diesen Fragen keine Normalität, „sondern spaltet weiter“, sagte Hauk.
Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) hatte vor wenigen Tagen vor einer Verschärfung der Debatte in diesem Punkt gewarnt: „Wir müssen alles tun, um zu verhindern, dass da Kulturkämpfe entstehen“, sagte er. Nach dem Willen der grün-roten Landesregierung sollen die Schüler im Südwesten ab dem Schuljahr 2015/16 stärker über Homosexualität aufgeklärt werden. Dies ist auch auf Kritik bei den Kirchen gestoßen. Kretschmann beteuert, dass es in den neuen Bildungsplänen nicht darum gehe, Kinder umzuerziehen. „Davon sind wir so weit weg wie der Mond.“
In dem Fragebogen, an dem erstmals am 11. Februar in der ARD-Talkshow von Sandra Maischberger massive Kritik geübt worden war, werden Vorurteile, mit denen sich normalerweise Homosexuelle konfrontiert sehen, auf provokative Art und Weise auf Heterosexuelle umgemünzt: „Ist es möglich, dass deine Heterosexualität nur eine Phase ist und dass du diese Phase überwinden wirst?“, lautet eine Frage. Insgesamt wird Heterosexualität in den zwölf Fragen als abartig, unnatürlich, unbefriedigend und gesundheitsgefährdend dargestellt.
Der Fragebogen wird in der Handreichung der GEW zur „Vertiefung“ des Themas empfohlen. Interessierte Lehrer können die Broschüre seit 1993 bei der GEW bestellen und seit geraumer Zeit auch aus dem Internet herunterladen.
Ruth Schwabe vom Arbeitskreis (AK) Lesbenpolitik der GEW verteidigte auf Anfrage den Fragebogen, den sie damals vom Amerikanischen ins Deutsche übersetzt hat: „Der Fragebogen wird in den USA schon seit circa 30 Jahren in der Bildung und Anti-Diskriminierungsarbeit verwendet.“ Sowohl amerikanische als auch deutsche Schüler seien fähig, „satirische Texte zu verstehen“.
GEW-Landesgeschäftsführer Matthias Schneider ging hingegen auch im Namen von GEW-Landeschefin Doro Moritz auf Distanz zu dem umstrittenen Text: „Wir finden beide den Fragebogen auch nicht wirklich glücklich“, sagte er. Allein deswegen wolle man aber die Broschüre nicht einstampfen oder aus dem Netz nehmen. Die Inhalte insgesamt seien nach wie vor in Ordnung. Sollte von der Broschüre aber eine weitere Auflage erstellt werden, könne es gut sein, dass der Fragebogen durch anderes Material ersetzt werde. „Das müsste man dann mit den Autorinnen besprechen“, so Schneider. Allein die Tatsache, dass manche Materialien in der Broschüre bereits 10 oder 20 Jahre alt seien, deute darauf hin „dass man da redaktionell drübergehen und vielleicht auch mal aktualisieren muss“.
Auch wenn der Fragebogen in der Broschüre ohne jede Erläuterung als Material zur „Vertiefung“ aufgeführt wird, ist laut Schneider für Lehrer erkennbar, „dass das ein Material ist, was den Schülern nicht unkommentiert in die Hand gegeben werden sollte“ und dass es wohl eher für ältere Schüler geeignet ist. Es sei eine durchaus übliche Unterrichtsmethode, mit Hilfe solcher Fragebögen die Schüler zum Diskutieren über ein Thema zu bringen. Auch wenn man über die konkreten Fragen diskutieren könne, so werde im Zusammenhang doch deutlich, „dass es hier um eine Provokation geht“.
Laut Schneider ist die Broschüre mit dem Titel „Lesbische und schwule Lebensweisen – ein Thema für die Schule“ von einer Gruppe lesbischer Lehrerinnen entwickelt worden, aus der sich bei der GEW später der Arbeitskreis Lesbenpolitik entwickelte. Seit der Erstauflage im Jahr 1993 sei die Broschüre schätzungsweise zwischen 5000 und 10 000mal angefordert worden, überraschenderweise oft von interessierten Lehrkräften aus anderen Bundesländern. Es sei also nicht so, dass die GEW mit diesen Materialien in großer Auflage an alle Schulen im Land gehe, so Schneider. Die sechste und bislang letzte Auflage sei im Februar 2013 gedruckt worden – mit 1800 Exemplaren.
FDP-Fraktionschef Rülke fordert in der Angelegenheit ein Zeichen von Kultusminister Andreas Stoch (SPD): „Ich erwarte von ihm, dass er sich von diesem Machwerk umgehend distanziert“, sagte er.
Eine Sprecherin des Kultusministeriums wollte sich auf Anfrage aber nicht konkret zu dem Fragebogen äußern: „Es liegt in der pädagogischen Freiheit der einzelnen Lehrkraft, über die Wahl der Unterrichtsmaterialien zu entscheiden“, sagte sie. „Wir sind überzeugt davon, dass unsere hervorragend ausgebildeten Lehrerinnen und Lehrern diese Entscheidung selbst treffen können.“ Das Ministerium rate dazu, die Diskussion über diese Materialien nach sorgfältiger Prüfung „und ohne politische Absichten“ zu führen, so die Sprecherin.
CDU-Fraktionschef Hauk kritisierte die ausweichende Reaktion des Ministeriums scharf: „Es ist typisch, dass sich das Kultusministerium einmal mehr wegduckt, anstatt Verantwortung zu übernehmen und ein Machtwort zu sprechen.“