Das Start-up Proservation hat kürzlich Investitionen in siebenstelliger Höhe gesammelt – die Geschichte beginnt bei einem Vater, der jahrelang auf der Idee seiner Tochter schläft.
Seit Jahrzehnten schwört Lisa Scherers Vater auf sein flauschig-federleichtes Kissen aus Getreidespelzen. Das bringt sie 2020 auf die Idee, die Polsterwirkung der Getreidekornhüllen für einen nachhaltigen Verpackungsstoff zu nutzen – und so zukünftig unzählige Tonnen an Plastikmüll zu vermeiden. 120 000 Tonnen Dinkelspelzen entstehen jährlich allein in Deutschland: Bislang nicht-essbare Abfallprodukte, in Zukunft womöglich Abfallverhinderer.
Mit dieser Vision gründet Lisa Scherer 2021 im Rahmen ihres Masters „Packaging Development Management“ an der Hochschule der Medien gründet Lisa mit ihrer Schwester und zwei Freunden das Start-up Proservation (englisch: „pro preservation“ – für Erhaltung). Gemeinsam entwickeln sie seither den Stoff „Recou“ (französisch: „recouver“ – umhüllen).
Nicht nur leere Hülsen: Spelzen statt Styropor
Für ihre Erfindung verschmelzen die Vier neben verschiedenen Sprachen die Getreidespelzen mit einem pflanzlichen Bindemittel. So formen sie ein bruchsicheres Material, das empfindlichen Gütern denselben Schutz bietet wie Styropor.
Der Unterschied: Für Styropor braucht es Erdöl, es ist nicht biologisch abbaubar und schwierig zu recyclen. „Recou hingegen wird regional erzeugt, ist plastikfrei und problemlos kompostierbar“, erklärt Henning Tschunt, Gründungsmitglied und Geschäftsführer des mittlerweile zwölfköpfigen Teams von Proservation.
Verpackungspreis 2022
Für seinen innovativen Ansatz wurde das Unternehmen 2022 mit dem Verpackungspreis ausgezeichnet. Bereits mehrfach konnte Proservation renommierte Stipendien und Business Angels für sich gewinnen. Nun erhält das Start-up für die großindustrielle Fertigung von Recou mehr als eine Million Euro an frischem Kapital. Die beachtliche Finanzspritze beruht auf privaten Anlegerinnen und Anlegern sowie dem Förderprogramm „InnoGrowth BW“ der L-Bank.
Gewinnanteile, aber keine Stimmrechte
Das Besondere im Fall von Proservation: Das Unternehmen hat seine Investorinnen und Investoren von einem ungewöhnlichen Deal überzeugt. Sie bekommen zwar Gewinnanteile, aber keine Stimmrechte. Damit schützt die Firma ihre Werte langfristig. „Dieser Erfolg bedeutet für uns einige Kopfschmerzen weniger“, gesteht Tschunt erleichtert. „Damit können wir unseren nächsten Meilenstein im Herbst 2025 erreichen.“
Für diesen Zeitpunkt plant Proservation, in Göppingen seine erste teilautomatisierte Produktionsanlage zu eröffnen. „Endlich“, wie der 30-jährige Tschunt kommentiert.
Vier Jahre haben die Freunde an der richtigen Konsistenz von Getreidespelzen und Bindemitteln getüftelt – und das mit allen Mitteln: Anfangs rühren sie ihr Birchler Müsli, wie sie die Maische anschaulich nennen, händisch in Bürocontainern an. Später mieten sie eine alte Kneipe in Bad Cannstatt, experimentieren mit Thermomix, Fleischwolf und physikalischen Grenzen. Gemeinsam mit Maschinenbauern entwickeln sie eine völlig neuartige Produktionsmaschine.
Im April 2024 steht schließlich der finale Entwurf. „Plötzlich hatten wir einen Heureka-Moment“, erinnert sich Henning Tschunt. Recou sei damals noch etwas bröselig und rau gewesen. „Wir konnten das Problem nicht lösen – bis wir einen Verfahrensschritt verändert haben.“
Ein Durchbruch, der weh tut
Ein Durchbruch, der ebenso begeistert wie weh tut. Der Feinschliff eröffnet der Firma den Markt für empfindliche schwere Güter wie Waschmaschinen und Kühlschränke. Gleichzeitig zwingt er sie, die Produktionsanlage neu zu konstruieren. „Manchmal muss man vier Schritte zurückgehen“, bemerkt Henning Tschunt, „um dann zwei nach vorne rücken zu können“.
Fortschritt verläuft selten geradlinig. Er fußt darauf, Kreise zu drehen, Hürden zu nehmen und Extra-Strecken zu laufen. All das kostet Nerven, Zeit und Geld – trotzdem hat Proservation nie die Flinte in die Kornspelze geworfen.
„Das ist nicht selbstverständlich. Viele Gründerteams geben wieder auf und entscheiden sich für die gesicherte Existenz als Angestellte“, meint Michael Herrenbauer. Der Professor für Verpackungstechnik an der Hochschule für Medien begleitet Proservation, seit Lisa Scherer die Spelzen aus dem Kissen ihres Vaters holte. „Mir war sofort klar: Die Idee hat Potenzial.“
Aber: Die Idee kann noch so hervorragend sein – entscheidend ist, sie zu vermarkten. „Dafür muss man ein starkes Team auf die Beine stellen“, unterstreicht Johanna Kutter, Leiterin der Ausgründungsförderung an der Hochschule der Medien. „Proservation ist es gelungen, die richtigen Leute zu vereinen.“
Das Ziel: Eine Revolution
Die richtigen Leute vereinen: Mit dieser Intention hat das Team kürzlich strategische Partnerschaften mit der Getreidemühle „SchapfenMühle“ aus Ulm und dem Verpackungsunternehmen Feurer Group aus Brackenheim geschlossen.
Zukünftig will das Start-up verstärkt auf internationale Partner setzen und Lizenzen zur Herstellung von Recou verkaufen. „Es wäre Quatsch, Recou nur hier zu produzieren. Getreide wächst überall“, betont Henning Tschunt. „Mit einer dezentralen Herstellung wollen wir die gesamte Branche revolutionieren.“