Eberhard Wille, Gesundheitsökonom und Professor an der Uni Mannheim. Foto: Leif Piechowski

Eberhard Wille sieht das Gesundheitswesen als wichtigen Wirtschaftsfaktor, der viele Jobs sichert. Er mahnt aber auch zu mehr Effizienz. Als Mitglied des Sachverständigenrats Gesundheit sprach er bei einer Veranstaltung der Südwest-AOK in Stuttgart.

Eberhard Wille sieht das Gesundheitswesen als wichtigen Wirtschaftsfaktor, der viele Jobs sichert. Er mahnt aber auch zu mehr Effizienz. Als Mitglied des Sachverständigenrats Gesundheit sprach er bei einer Veranstaltung der Südwest-AOK in Stuttgart.

Stuttgart - Herr Wille, das Gesundheitswesen ist ein enormer Wirtschaftsfaktor. Gewertschätzt wird das in der öffentlichen Debatte aber kaum. Warum?
Das Gesundheitswesen, das nach den eher restriktiven Berechnungen des Statistischen Bundesamts circa fünf Millionen Menschen einen Arbeitsplatz bietet, stellt in der Tat einen bedeutenden Beschäftigungs- und Wachstumssektor dar. Zudem bildet die medizinische Infrastruktur für Kommunen und Städte zunehmend einen relevanten Standort, um Unternehmen mit qualifizierten Beschäftigten anzuziehen. In Deutschland dominierte in der Vergangenheit in den politischen Diskussionen die Finanzierungsseite der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) mit dem Ziel der Beitragssatzstabilität. Dies führte in den letzten 30 Jahren auch zu zahlreichen Kostendämpfungsgesetzen.
Das heißt?
Das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) konzentriert sich entsprechend vornehmlich auf die Finanzierbarkeit der GKV, während zum Beispiel die Wirtschaftsministerien der Bundesländer auch die Beschäftigungseffekte der jeweiligen Reformen im Auge haben.
Insbesondere mit Blick auf die demografische Entwicklung hat das Gesundheitswesen enormes Wachstumspotenzial. Ist die GKV, sind die Kassen nicht eher hinderlich, wenn es darum geht, dieses Potenzial zu heben?
Die Krankenkassen verfolgen aus ihrer Interessenlage das gleiche Ziel wie das Gesundheitsministerium, zumal der Wettbewerb um günstige Beiträge hier eine zentrale Rolle spielt. Eine Einheitskasse würde hier aber kaum anders agieren, wie das Beispiel des National Health Service in England belegt. In Frankreich gehen allerdings im Rahmen der dortigen Industriepolitik beschäftigungspolitische Aspekte zuweilen in gesundheitspolitische Entscheidungen ein.
Wie sollte das System verändert werden, um Wachstum zu ermöglichen?
Zunächst bleibt festzuhalten, dass das Wachstum und die Beschäftigung in den vergangenen Jahrzehnten im deutschen Gesundheitswesen durchaus überdurchschnittlich ausfielen. Zudem muss sich die Gesundheitsversorgung nicht nur am Beschäftigungsziel, sondern auch an den Postulaten der Effizienz und Effektivität ausrichten. Dies bedeutet, dass die jeweiligen Leistungen in kostengünstiger Weise einen Beitrag zur Lebenserwartung und -qualität leisten müssen. Unter diesen Aspekten sehe ich die Notwendigkeit von beschäftigungsfördernden Veränderungen vor allem bei den stark vernachlässigten Krankenhausinvestitionen und generell im Bereich der Pflege.
Manche Experten glauben, dass nur eine strikte Rationierung helfen wird, die Versorgung aufrechtzuerhalten in einem alternden Gemeinwesen. Wie stehen Sie dazu?
Obgleich das deutsche Gesundheitswesen im internationalen Vergleich hinsichtlich seiner Leistungsfähigkeit keineswegs schlecht abschneidet, existiert noch ein beachtliches Rationalisierungspotenzial. Dies gilt sowohl innerhalb der einzelnen Leistungsbereiche als auch und besonders an den Schnittstellen dieser Sektoren. Bei einer teilweisen Hebung dieses Potenzials halte ich vor dem Hintergrund der derzeitigen Finanzreserven eine Rationierung von dringlichen Leistungen in den nächsten Jahren für nicht angezeigt. Danach dürfte die demografische Entwicklung zur Vermeidung einer solchen Rationierung eine Erhöhung der Beitragssätze erforderlich machen.
Die Kassen erhalten künftig wieder die Möglichkeit, den Beitrag selbst festzulegen. Ein richtiger Schritt für mehr Wettbewerb? Aber auch für mehr Wettbewerb um die beste Versorgung?
Die Beiträge können die Krankenkassen über Zusatzbeiträge und Prämien an die Mitglieder auch schon bisher selbst festlegen, nicht jedoch die Beitragssätze. Im Grunde findet künftig nur ein Austausch eines pauschalen durch einen einkommensabhängigen Zusatzbeitrag statt. Dies dürfte den Wettbewerb der Krankenkassen wegen der geringeren Merklichkeit des einkommensabhängigen Zusatzbeitrags eher etwas reduzieren.
Wo sollte Schwarz-Rot unbedingt zu weiteren Reformen im Gesundheitswesen kommen, um das GKV-System zukunftsfähig zu halten?
Auf der Leistungsseite gilt es, die integrierte sektorenübergreifende Versorgung aus ihrer momentanen Stagnation zu lösen und damit einhergehend an der Schnittstelle der Sektoren das ambulante Potenzial besser auszuschöpfen. Dies erfordert eine umfassende funktionsfähige wettbewerbliche Rahmenordnung an der Schnittstelle zwischen dem ambulanten und dem stationären Sektor. Im Krankenhausbereich und in der Arzneimittelversorgung bedarf es der Einführung von Elementen der selektiven Kontrahierung (dann könnten Krankenkassen etwa Einzelverträge mit bestimmten Kliniken aushandeln, die Redaktion) beziehungsweise des Preiswettbewerbs. Die Frühbewertung des Nutzens von Leistungen und weitergehende Kosten-Nutzen-Analysen, die auf Versorgungsstudien aufbauen, sollten sich nicht auf den Arzneimittelbereich beschränken, sondern auch auf Medizinprodukte und auf bestimmte kostenintensive und/oder strittige Behandlungen erstrecken.