Das Gesundheitssystem könne von mehr Daten profitieren, sagt der AOK-Vorstandsvorsitzende Johannes Bauernfeind. Foto: Lichtgut/Max Kovalenko

Der AOK-Chef Johannes Bauernfeind glaubt, dass die Menschen ihr Krankheitsrisiko kennen sollten. Er plädiert dafür, die Möglichkeiten der elektronischen Patientenakte intensiver zu nutzen.

Der Vorstandsvorsitzende der AOK Baden-Württemberg, Johannes Bauernfeind, erklärt im Interview die Rolle von Daten im Gesundheitswesen.

Herr Bauernfeind, wie gesund ist Baden-Württemberg?

Die Antwort ist immer eine vergleichende. Wir erkennen beispielsweise, dass Asthma, Diabetes und Koronare Herzkrankheiten (KHK) signifikant seltener in Baden-Württemberg auftreten als in anderen Bundesländern. Bei KHK liegen die Werte um ein Sechstel niedriger als im Bundesschnitt. Wichtig ist aber auch, dass wir eine etwas jüngere Bevölkerung im Land haben. Neben dem Alter beeinflussen Faktoren wie Lebensstil, genetische Aspekte, sozialer Status oder Umwelteinflüsse die Entstehung von Krankheiten.

Wie hoch ist die Dunkelziffer?

Sobald Menschen einen gewissen Leidensdruck haben, gehen sie zum Arzt. Check-Up-Angebote werden breit angenommen. Erwerbstätige müssen ihre Arbeitsunfähigkeit nachweisen. Insofern glaube ich, dass die Daten die Lage ziemlich genau abbilden.

War es früher anders?

Die Sozialstruktur verändert sich. Als Teil einer Großfamilie ist der Versicherte beispielsweise früher bei einer Grippe häufig nicht zum Arzt gegangen. Heute könnten sich alleinstehende Personen eventuell schneller ärztlichen Rat einholen, auch weil sich der Zugang zur ärztlichen Beratung deutlich vereinfacht hat. Das kann sich in der steigenden Zahl von Diagnosen ausdrücken.

Ist es wünschenswert, dass möglichst häufig untersucht wird?

Das Gesundheitssystem kommt an eine Leistungsgrenze. Unter Umständen benötigt es Filter, um zu entscheiden, ob es wirklich einen Arztkontakt braucht. Wichtig ist, dass schwere oder chronische Erkrankungen, und gegebenenfalls auch die Risiken, zu erkranken, früh erkannt werden.

Kann man mit Diagnosedaten bestimmen, wie gesund die Bevölkerung ist?

Für die Vergleichbarkeit wird Gesundheit oft auf die Abwesenheit von Krankheiten reduziert. Anders formuliert: je weniger Diagnosen, desto gesünder ist eine Bevölkerung.

Fast alle Krankheiten werden heute häufiger diagnostiziert als vor zehn Jahren. Stimmt Sie das traurig?

Erst, wenn die Symptome die Lebensqualität verringern. Wenn wir nicht nur mehr Diagnosen haben, sondern auch bessere Behandlungsmöglichkeiten, geht es den Menschen besser. Es ist wichtig, dass Erkrankungen erkannt und behandelt werden. Und es gibt immer noch genügend stark einschränkende Krankheiten, die man weder richtig diagnostizieren noch behandeln kann.

Das Land wird älter – und kränker?

Sobald wir erwachsen sind, beginnt der körperliche Verfall. Das ist einfach so. Doch es sollte die Lebensqualität möglichst wenig beeinträchtigen. Durch hohen Blutdruck muss ich nicht stark eingeschränkt sein. Und wenn doch, kann ich etwas dafür tun, dass er wieder sinkt. Das macht nur nicht jeder.

Statt Medikamenten kann auch Prävention helfen. Motivieren Daten zu einem gesünderen Lebensstil?

Sie können ein Bewusstsein schaffen für das Risiko in einem bestimmten Alter. Wenn den Menschen gleichzeitig mitgeteilt wird, wie sie dieses Risiko senken können, nützt das. Wer sich mehr bewegt, senkt die Wahrscheinlichkeit für hohen Blutdruck. Zwei von drei Menschen über 65 leiden darunter. Wer zum anderen Drittel zählen möchte, für den gibt es eine klare Empfehlung: Gehen Sie raus, bewegen Sie sich!

Auch in der elektronischen Patientenakte (ePA) werden Daten gesammelt. Utopie oder Dystopie?

Heute sind viele Diagnosedaten gar nicht in der ePA enthalten oder nur mit Zugriffsschutz, nicht nach einheitlichen Regeln – und sie können nicht standardisiert ausgelesen werden. Dass sich das rasch ändert, halte ich für eine Notwendigkeit. Es kann lange darüber diskutiert werden, wem solche Daten gehören. Aber: Anonyme Daten nutzen dem ganzen Gesundheitssystem. Darum sollte es zumindest die Möglichkeit geben, sie auch auszuwerten. Daraus könnten für einzelne Patienten bessere Präventions- und Behandlungsmethoden abgeleitet werden. Zumindest teilweise dürfen wir unseren Versicherten auf deren eigenen Wunsch hin bereits jetzt gezielt Informationen schicken.

Wie nutzen Sie die Daten für die Arbeit der Krankenkasse?

Wir sehen, wie sich bestimmte Erkrankungen regional unterschiedlich ausprägen. Da können wir zum Beispiel über Selektivverträge mit Ärzten das Angebot vor Ort steuern. Dazu kommt das betriebliche Gesundheitsmanagement. Und in den Regionalteilen unseres Gesundheitsmagazins lenken wir die Aufmerksamkeit der Menschen auf Themen, die in der Region häufig sind.

Wie ist es zu erklären, dass am Stuttgarter Killesberg besonders wenige Menschen krank sind und im nahen Mühlhausen deutlich mehr?

Wahrscheinlich geht die Quadratmetermiete noch stärker auseinander als die Zahl der Diagnosen. Bis heute sind Einkommen und Gesundheit positiv korreliert. Es liegt jedenfalls eher nicht an den Ärzten.

Die Zahl der Diagnosen steigt für fast alle Krankheiten. Gibt es Gegenbeispiele?

Die Zahngesundheit ist in den vergangenen Jahrzehnten immer besser geworden. Bei Lungenkrebs gehen die Neuerkrankungsraten der Männer seit Ende der 90er Jahre zurück, bei Frauen sind sie wegen veränderter Rauchgewohnheiten angestiegen. Bei Magenkrebs sinken die Werte seit Jahrzehnten. Ansonsten sehe ich kein relevantes Krankheitsbild, wo die Diagnosen zurückgehen.