Ommm: Wer täglich meditiert, entwickelt ein gewisses Maß an Selbstakzeptanz. Foto: mauritius

Unter Stress leidet mittlerweile gefühlt jeder. Wer regelmäßig meditiert, verbessert die Konzentrationsfähigkeit, schärft das Urteilsvermögen – und entkommt wie nebenbei der Stressfalle. Unternehmen wie SAP, Google und Bosch nutzen Achtsamkeitstrainings, um den Teamgeist zu stärken .

Stuttgart - 53 Mal pro Tag schaut ein durchschnittlicher Smartphone-Nutzer in Deutschland auf sein Handy. Das bedeutet: Alle 18 Minuten unterbricht er oder sie die aktuelle Tätigkeit. Das Essen, die Arbeit, das Fernsehen – ja, sogar Unterhaltungen rücken in den Hintergrund, sobald eine neue Nachricht auf dem Display erscheint. Die Zahl der Unterbrechungen entstammt einer Studie der Universität Bonn aus dem Jahr 2015. In den vergangenen beiden Jahren ist sie sehr wahrscheinlich noch gestiegen.

„Der moderne Mensch befindet sich in einer permanenten, meist virtuellen Notfallsituation“, sagt Harald Banzhaf, Facharzt für Allgemeinmedizin, Umwelt- und Sozialmedizin in Bisingen, etwa 65 Kilometer südlich von Stuttgart. Die vielen Nachrichten wirken wie kleine Signale auf unser Gehirn, auf die es reagieren muss, erklärt Banzhaf, und das bedeutet Stress. „Der spielt sich zwar nur in unserem Kopf ab“, so der Arzt. „Vor uns steht ja kein Säbelzahn-Tiger. Die biologische Reaktion ist aber dieselbe.“

Achtsamkeit lautet seine Antwort auf den Dauer-Stress: Meditieren, Atemübungen. „Es geht um den Entschluss, sich auf eine Sache zu konzentrieren“, sagt Banzhaf. „Reize von außen sind nur Angebote – ob wir auf sie reagieren, liegt bei uns.“ Nicht sofort auf ein Signal wie eben das Aufblinken des Handys zu reagieren, sondern jedes Mal eine aktive, selbstbestimmte Entscheidung zu treffen, bedarf allerdings der regelmäßigen Übung. Denn normalerweise fragt sich kaum jemand: Will ich das eigentlich?, bevor er das Smartphone in die Hand nimmt.

Durch Achtsamkeitstrainings sinkt der Zeitaufwand für Meetings

Die Wurzeln der Achtsamkeit liegen im Buddhismus. Bekannt wurde das Prinzip aber vor allem durch den Molekularbiologen Jon Kabat-Zinn. In den späten 70er Jahren entwickelte der amerikanische Forscher das MBSR-Programm („Mindfulness-Based Stress Reduction“, zu Deutsch: Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion). Als MBCT („Mindfulness Based Cognitive Therapy“, zu Deutsch: Achtsamkeitsbasierte kognitive Therapie) wird das Programm bereits seit Jahren im Rahmen von Psychotherapien zur Depressions-Prophylaxe eingesetzt.

Inzwischen haben auch Unternehmen wie SAP, Google und Bosch entdeckt, dass ihnen Achtsamkeitstrainings nutzen. Durch die Trainings steigen in vergleichsweise kurzer Zeit die individuellen Gesundheits- und Leistungsparameter der Mitarbeiter an, so der Medizinpsychologe Niko Kohls gegenüber der Wochenzeitung VDI nachrichten, zudem verbessere sich der Teamgeist. Kohls ist Medizinpsychologe an der Hochschule Coburg. Er hat die Wirkung von Achtsamkeitsprogrammen in 25 Unternehmen, Schulen und Hochschulen untersucht. Seine Ergebnisse sind eindeutig. „In vergleichsweise kurzer Zeit sind psychologische und neurobiologische Veränderungen zu beobachten“, sagt Kohls. „Bei einmaligem Achtsamkeitstraining in der Woche fühlen sich die Mitarbeiter nach zwei bis drei Monaten besser, ausgeruhter.“ Darüber hinaus sinke der Zeitaufwand für Meetings um 20 bis 30 Prozent – „weil jeder vor dem Treffen eine Minute in sich geht und sich überprüft: Habe ich substanziell etwas beizutragen oder gehe ich nur dahin, um mich zu produzieren?“

„Man kann auch die psychische Muskulatur stärken“

Das Prinzip Achtsamkeit ist mehr als eine innere Einkehr, mehr als eine kurze Minute Auszeit vom stressigen Alltag. Wer zwischen zwei Aufgaben, vor einer wichtigen Besprechung oder Entscheidung kurz innehält, schärft das Urteilsvermögen. Wer zuhause regelmäßig meditiert oder andere Achtsamkeitsübungen praktiziert, verbessert die Konzentrationsfähigkeit, entwickelt Selbstreflexion sowie ein gewisses Maß an Akzeptanz, sagt der Psychotherapieforscher Martin Bohus vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim.

Bohus engagiert sich für die Gesundheitsaktion Lebe Balance der AOK. Sie soll die psychische Gesundheit stärken, um stressassoziierten Krankheiten wie Burn-out, Bluthochdruck, Depressionen vorzubeugen. Dass man Rückenbeschwerden vorbeugen kann, indem man die Rückenmuskulatur stärkt, sei bekannt, sagt Bohus. „Aber es hat ziemlich lange gedauert, bis man verstanden hat, dass man sozusagen die psychische Muskulatur auch stärken kann.“

Wie das funktioniert? Eigentlich recht einfach. In einer ruhigen Position – im Sitzen oder im Liegen – trainiert man das Gehirn darauf, sich nur auf einen Reiz zu konzentrieren, alles andere auszublenden. Manchen hilft es, sich dabei auf den Atem zu konzentrieren, andere richten die Aufmerksamkeit lieber auf ein Bild im Kopf oder auf die Geräusche der Umgebung. Die Gedanken, die währenddessen immer wieder auftauchen, nimmt man zwar wahr, versucht aber, sie unkommentiert an sich vorbeiziehen zu lassen.

„Achtsamkeit und Humor helfen, aus dem Kopfkino auszusteigen“

Bohus meditiert täglich zehn bis fünfzehn Minuten. „In dem Augenblick nehme ich mich selbst zwar wahr, aber nicht mehr ganz so ernst“, sagt er. „Ich entwickle eine Art wohlwollender, milder Distanz zu mir selbst. Es ist tatsächlich ein heilsamer Weg, sich selbst weniger Bedeutung zuzuschreiben.“

Dieser Meinung ist auch Michael Stefan Metzner. Der Psychologe und Psychotherapeut aus Prien am Chiemsee hat sogar ein Buch zum Thema verfasst: „Achtsamkeit und Humor: Das Immunsystem des Geistes“. „Achtsamkeit und Humor helfen dabei, aus dem Kopfkino auszusteigen“, sagt Metzner, „und wieder unabhängig zu werden von der eigenen Sichtweise.“ Denn vor allem das Festgefahrensein in der eigenen Position führe heutzutage zu Konflikten – „sowohl in Beziehungen als auch zwischen Nationen.“

Dass Meditation kein Allheilmittel ist, mit dem man unter Umständen sogar Kim Jong-un oder Donald Trump von ihrem jeweiligen Egotrip heilen kann, ist Metzner dabei klar: „Unterschiedliche Leute gehen eben unterschiedliche Wege. Schaden würde ihnen das Meditieren aber bestimmt nicht.“

So praktiziert man Achtsamkeit im Alltag

Besinnung Bevor man sich einer neuen Aufgabe widmet, kann man einen Moment lang innehalten. Mit geschlossenen Augen richtet man im Sitzen die Konzentration eine bis drei Minuten lang nach innen, die Aufmerksamkeit fokussiert man auf den eigenen Atem. Die Übung lässt sich leicht in den Berufsalltag integrieren.

Training Bei einem MBSR-Training lernen die Teilnehmer, Stresssignale frühzeitig wahrzunehmen. Das achtwöchige Programm nach Jon Kabat-Zinn regt unter anderem dazu an, täglich 45 Minuten zu meditieren. Kurse bietet etwa das Zentrum für Achtsamkeit in Stuttgart (ZAS) an. Infos unter www.zas-stuttgart.de.

Vortrag Am Freitag, 28. April, hält Michael Stefan Metzner einen Vortrag zu den Themen Achtsamkeit und Humor im Hospitalhof Stuttgart, Büchsenstraße 33. Der Vortrag „ Wo ICH anfängt, ist Schluss mit lustig“ dauert von 19 bis 21 Uhr. Eintritt 7 Euro.